Der silberne Moment
Wir optimieren uns permanent. Und merken gar nicht, wie kaputt uns das macht. Denn während wir an der Scheibe des Lebens drehen, damit immer alles rund läuft, rennt uns das Glück unbemerkt davon. Was also können wir im Neuen Jahr besser machen?
Mehr Bewegung, mehr Umweltbewusstsein, mehr Geld – all diese guten Vorsätze für das Neue Jahr haben jetzt Hochkonjunktur. Sie müssen jetzt, hier und heute von uns umgesetzt werden. Denn während wir das Jahr über an uns herumdoktorn, merken wir zum Ende hin: Oh, jetzt gehts los! Die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr, das ist eine besondere! Die Zeitschriften- und Buchläden sind vollgestopft mit Jahreshoroskopen und Ratgebern, die uns aufmunternd zuzwinkern als würden sie sagen wollen: Kauf mich, ich weiß es besser als Du! Wie Du schön, schlank, befreit und bewusst wirst im Neuen Jahr.“ Und der Jahresanfang jetzt, er hält uns kläglich den Spiegel vor: Hattest Du nicht gesagt, Du wolltest keine Süßigkeiten mehr essen am Arbeitsplatz? Dein Fleischkonsum, na, immer noch nicht reduziert? Wolltest Du Dich nicht ehrenamtlich im Verein für geflüchtete Kinder engagieren?
Das Unperfekte
Nun ist das Neue Jahr schon wieder zwei Wochen alt. Ich stelle fest, dass es sich ziemlich gut anfühlt, dieses erste Zwanziger-Jahr. Ich habe immer noch nicht 100 Prozent auf Plastikverzicht umgestellt und meinen Banenenbaum habe ich auch noch nicht umgetopft. Meine Vorsätze sind nicht golden, sondern irgendwie wie ungeputztes Silber. Das Unperfekte ist gut, genau so wie es ist. Ich bin entspannt. Ich mag Silber. Gold war mir immer schon suspekt. Das Immer-Mehr-haben-Wollen weicht einem zufriedenem Ich-bin-hier. Bei dem Begriff Working-Life-Balance rümpfe ich heute die Nase. Früher hatten wir Hobbies und Freizeit, jetzt geht es um die Balance und die richtige Dosierung – wie bei einem lebenserhaltendem Medikament. Dabei war uns Menschen ein ausgewogenes Leben doch früher auch schon wichtig.
Der totale Rückzug
Dass Depressionen gerade in hoch industrialisierten Ländern zunehmen, ist kein Geheimnis. Es wird viel darüber geschrieben und ein paar mutige Autor*innen outen sich sogar, darunter wenige Prominente. Wir denken, wir gehen offen mit dem Thema Depressionen um. Aber den Konflikt anzugehen des Mehr-Wollens versus des gleichzeitig Nicht-Könnens – eine der Ursachen für dieses Krankheitsbild – da wagen wir uns nicht ran. Allein in meinem Freundeskreis gibt es vier Menschen, die in den vergangenen Jahren heftige Erschöpfungszustände erlitten haben hin zu völliger Arbeitsunfähigkeit. Diese Menschen mussten, wie man so schön sagt, aussteigen. Nur der totale Rückzug aus dem vorher gelebten Leben half ihnen dabei, den Weg irgendwann wieder zurückgehen zu können in eine Normalität. Übersteigerte Erwartungen an sie selbst und durch ihr Umfeld hatten sie krankgemacht.
Eine Blaumeise beobachten
Sich selbst nahe zu sein, seine eigenen Bedürfnisse zu erkennen und sie im Einklang mit der Umwelt zu leben, kann eine gesunde Form sein, durch das Leben zu gehen. Dazu gehört auch manchmal, still zu werden und den Moment wahrzunehmen. Wie durch eine Lupe: Tage alleine zu verbringen. Spazieren zu gehen. Den Himmel anzugucken. An einer Rose zu schnuppern. Eine Blaumeise über Minuten zu beobachten, wie sie angeflogen kommt, ein paar Körner aufpickt vom Boden, sich aufplustert und anschließend als kleines Federbällchen auf zwei dünnen Beinen in der Kälte schüttelt, bevor sie dann wieder davonfliegt.
Versilbern ist besser als Gold
Es sind nicht immer die guten Vorsätze, die ein Neues Jahr vergolden. Es sind die Momente und die damit verbundenen Gefühle, die es auf immer und ewig versilbern. Ich kann mir ja trotzdem vornehmen, künftig nichts mehr aus Plastik zu kaufen. Und Texte zum Neuen Jahr früher zu schreiben als es dieses Mal der Fall war.
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