„WIR HALTEN DURCH“

Die preisgekrönte, israelische Frauenorganisation Machsom Watch beobachtet seit 20 Jahren die Lage an Checkpoints zwischen Israel und der Westbank. Dort unterstützt sie aktiv palästinensische ZivilistInnen. Mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit leisten die Mitglieder Widerstand gegen die Besatzung, obwohl sie selbst israelische Staatsbürgerinnen sind. Und riskieren damit viel.

Jerusalem – „Wenn wir könnten, mein Mann und ich, dann wir würden Israel am liebsten verlassen. Aber wir sind jetzt über 70, wir sind zu alt.“ Roni Hammermann sitzt auf einem beigen Ledersofa, beugt sich kurz vor und schaut ihr Gegenüber dann intensiv an. Sie denkt kurz nach, dann sagt sie. „Ich würde sehr gerne in Italien leben. Aber dort habe ich keine Freunde, keine Unterstützung. Also bleiben wir in Israel.“ Sie schweigt.
Wir sitzen in dem Wohnzimmer der Hammermanns in Nahlot, einem Stadtteil in West-Jerusalem.

Desillusioniert

Ich bin hierher gekommen, um mich mit einer der Gründerinnen von Machsom Watch über ihre Arbeit zu unterhalten. Die israelische Organisation wurde 2001 von Roni Hammermann mitgegründet. Jetzt wird sie 20 Jahre alt und begeht dies mit einer virtuellen Ausstellung im August 2021. Die Organisation besteht nur aus Frauen. Alle sind freiwillig aktiv, ohne Bezahlung, aber mit der Überzeugung im Kopf und im Herzen, dass die israelischen Kontrollpunkte in der Westbank abgeschafft werden müssen. So wie die israelische Besatzung insgesamt. Roni Hammermann ist ihre Vorsitzende. Sie hat den Aachener Friedenspreis verliehen bekommen und ist jetzt 76 Jahre alt. Und sie ist verzweifelt. Denn die israelische Menschenrechtsaktivisten-Szene ist auf ein Häuflein zusammengeschrumpft in den letzten Jahren. Und die Politik Israels wird immer rechter: „Hier ist soviel Hass in diesem Land, soviel Wut und Rassismus, das ist nur schwer auszuhalten“, sagt Roni.

Von Wien nach Jerusalem

Die studierte Slawistin war nie eine überzeugte Zionistin, obgleich der neugeschaffene jüdische Staat ihren Eltern 1930 zu einer sicheren Insel wurde. Beide stammten aus Österreich-Ungarn und mussten als vor den Nationalsozialisten verfolgte Juden fliehen. Roni wurde 1940 vor der Staatsgründung Israels im damaligen Palästina geboren, verbrachte aber ihre Schul-und Studienzeit in Wien. Mit 25 Jahren zog sie nach Israel und blieb. Nicht, weil sie sich unter Juden am wohlsten fühlte, sagt sie. Sondern weil sie an der Hebräischen Universität Russisch unterrichteten konnte und später dort Bibliotheksleiterin wurde.

Schwanger am Checkpoint

Die Mutter von zwei erwachsenen Kindern war immer in der Menschenrechts-Szene aktiv, erzählt sie. Aber 2001 gab es eine entscheidende Wende in ihrem Leben. Aufgerüttelt durch einen Artikel in der linksliberalen Zeitung Haaretz, in der über palästinensische Frauen berichtet wurde, die ihre Babys an einem Checkpoint bekommen mussten, weil ihnen israelische Soldaten den Zugang zu den Krankenhäusern auf der anderen Seite verweigerten, begann Roni Hammermann mit einigen anderen Frauen darüber zu diskutieren. Werdende Mütter, die ihre Kinder auf offener Straße gebären mussten und das unter Lebensgefahr, das war ungeheuerlich, erinnert sie sich: „Wir sagten uns, kommt, da müssen wir hingehen, wir müssen uns die Situation direkt vor Ort an so einem Checkpoint ansehen.“

Die Situation verschlechtert sich

Roni Hammermann am Checkpoint in Qualandia 2009. Foto: Tamar Fleishman

Aus dem Hingehen und dem sich Vor-Ort-Überzeugen wurde eine der meist geachteten Nichtregierungsorganisationen Israels. Mittlerweile zählt die Organisation mit dem hebräischen Namen Machsom Watch (Checkpoint Watch) mehr als 400 jüdische Frauen. Wie viele es ganz genau sind, kann Roni Hammermann  nicht sagen. „Wir haben kein offizielles Büro, sondern arbeiten vor allem über E-Mails und private Treffen“, sagt sie. Jede Woche beobachten israelische Frauengruppen von Machsom Watch entweder morgens früh oder nachmittags ausgewählte Checkpoints im Norden und Süden des Landes. Sie machen Fotos vor Ort, von Menschenrechtsverletzungen, sie notieren Vorfälle und sammeln die Informationen, um sie zu publizieren.

593 KOntrollpunkte und Barrieren

Israel verfügt derzeit über 80 fester Kontrollpunkte, der Großteil untersteht dem Verteidigungsministerium und wird von SoldatInnen und jeweils einem_r diensthabenden_r OffizierIn verantwortet. Insgesamt verteilen sich 593 Kontrollpunkte unterschiedlichster Art sowie Straßensperren, sogenannte Roadblocks“, auf palästinensischem Land. Seit einigen Jahren aber gibt es die Tendenz des „Outsourcing“: Die Checkpoints werden privatisiert, die Kontrolle führen Sicherheitsfirmen aus. Für PalästinenserInnen hat sich damit die Situation dramatisch verschlechtert. Die privaten Kontrollpunkte gelten als verroht, die Demütigungen bei den Kontrollen seien extremer als bei den militärisch geführten, kritisieren istaelische und internationale MenschenrechtsbeobachterInnen.  Die sogenannten Private Guards seien ungebildet und spielten sich wie die Sheriffs gegenüber den PalästinenserInnen auf, heisst es.

RESPEKT VOR DEM ALTER

Dies beobachten auch die Frauen von Machsom Watch, die sich vor allem dort positionieren, wo viele Menschen sind. Ihre Notizen und Fotos zeigen Momente von Menschenrechtsverletzungen durch Video-Kameras und ihren Stift auf – und sie verhandeln aktiv mit den SoldatInnen. Denn oftmals werden sie ZeugInnen davon, dass PalästinenserInnen die Kontrollpunkte nicht passieren dürfen. Ohne Grund, aus einer Laune heraus, begleitet von Aggressionen und Willkür. Sie bekommen mit, wie Menschen gedemütigt werden von SoldatInnen, denen der Pubertätsflaum manchmal noch auf der Oberlippe steht. Dann ist der Zeitpunkt für die Israelinnen gekommen, um einzugreifen. „Unser Vorteil ist, dass wir mit den Soldaten auf Hebräisch sprechen können. Wir sind Israelinnen und genießen dadurch eine Sonderposition, die internationale BeobachterInnen nicht haben“, so Roni Hammermann. Bei den Gesprächen mit den SoldatInnen helfe ihnen auch ihr Alter, sagt die Machsom-Watch-Mitgründerin. Alle Frauen sind über 50 Jahre alt, ein Großteil von ihnen sogar über 65. Das verschaffe ihnen zumindest anfänglich Respekt.

Über die Grüne LInie

Jede Frauengruppe veröffentlicht regelmäßig ihre Berichte auf der Webseite von Machsom Watch. Der israelische Staat hat seit Jahrzehnten Checkpoints installiert, die Palästinenser täglich passieren müssen. Auf dem Weg zur Arbeit, in die Universität, zu Familie und Freunden oder in die Gemeinde – ohne Checkpoint, ohne Identitätskarte und die schriftliche beantragte Erlaubnis von israelischer Seite geht es nicht weiter. Die rund 80 Kontrollpunkte seien nach internationalem Recht illegal auf palästinensischem Land gebaut, sagt Roni. Hinzu kommen zahlreiche sogenannte flying und partial Checkpoints, also fliegende und teilweise installierte, die in Sondersituationen ad-hoc errichtet werden und manchmal für tausende von Menschen ein großes Hindernis darstellen. Nur acht von ihnen befinden sich innerhalb der sogenannten Grünen Linie, der Waffenstillstandslinie von 1948. Machsom Watch informiert darüber auf seiner Webseite, bei Rundgängen und in Publikationen.

Öffentlichkeitsarbeit leisten

Am Anfang war es nur eine Handvoll Frauen, die sich Machsom Watch anschloss. Aber schon 2004 konnte die kleine Organisation sich offiziell registrieren lassen und damit auch Spendengelder rekrutieren. Diese sichern die laufenden Kosten für Machsom Watch. Die meisten Gelder werden für den Transport der Frauen an die Checkpoints benötigt, die oft weit weg von den Lebensmittelpunkten der Mitglieder liegen. Auch die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit wird zunehmend kostspieliger. Denn natürlich möchte die Organisation ihr Wissen über die israelische Besatzung, die Informationen über die Checkpoint-Lage, verbreiten. In den letzten Jahren hat diese Arbeit zugenommen, weil „uns klargeworden ist, dass wir die israelische Gesellschaft wirklich aufklären müssen“, sagt Roni Hammermann.

Filme, Touren, Publikationen


Machsom Watch hat einen Film produziert über die missliche Lage der Bauern im Jordantal, Titel :“The fading valley“. Bald soll eine Studie zu landwirtschaftlichen Toren bei Qualkilia im Norden der Westbank herausgebracht werden, um damit für die Öffentlichkeit „den systematischen Landraub Israels zu verdeutlichen“. Die Organisation hat einen Imagefilm mit dem Namen „The gate keepers“ über sich selbst produziert. Einige Frauen dokumentieren regelmäßig Gerichtsverhandlungen in den Militärgerichten, in denen häufig Jugendliche ohne rechtmäßige Anklage und ohne einen Anwalt oder eine Anwältin sitzen. PalästinenserInnen, die keine Passierscheine bekommen und auf der Schwarzen Liste Israels stehen, können sich ebenfalls an die Frauen wenden. Es gelingt nicht immer, die Namen dort zu entfernen. Aber so manches Mal hat es schon geklappt.

Wir können überall stehen

Die Frauen legen jetzt mehr Gewicht auf Führungen in englischer und hebräischer Sprache, sie gehen in vorbereitende Militärcamps für israelische Schüler, die den Armeedienst noch vor sich haben oder sprechen in Schulen und Akademien über ihre Arbeit.  Roni Hammermann selbst steht einmal pro Woche am Qualandia-Checkpoint, einem der größten Kontrollpunkte auf Jerusalem-Seite, der von und nach Ramallah führt. Dieser Checkpoint sei besonders grausam, findet sie. Denn dort müssen sich die wartenden Menschen in Käfig artige Schlangen einreihen und oft stundenlange Wartezeiten auf sich nehmen. „Häufig wissen die jungen SoldatInnen in Qualandia noch nicht einmal, wo sie da genau sind, ob Westbank oder Jerusalem – eine absurde Situation“, findet Roni Hammermann.

Die Luft ist dünn

Die Gespräche mit den SoldatInnen enden nicht immer gut für die engagierten Frauen. Einige wurden schon verhaftet, rüde angefasst oder das Militär versuchte, sie gar ganz zu verjagen. „Aber wir können dort überall stehen. Niemand kann uns befehlen, dass wir weggehen sollen“, ist Roni Hammermann überzeugt. In Zeiten von immer restriktiver werdenden Gesetzen gegen israelische AktivistInnen und linke JournalistInnen stellt Machsom Watch eine absolute Ausnahme dar. Wer in Israel die Besatzung als solche benennt und kritisiert, für den wird die Luft deutlich dünner. Roni Hammermann weiß das und es zermürbt sie. Ihre Tochter lebt in Mainz. „Gottseidank, damit entkommt sie der israelischen Gehirnwäsche“, sagt die Mutter Roni Hammermann. Ihren Sohn ist sie dabei zu überreden, Israel ebenfalls zu verlassen.

Kritik ist Wichtig

Ronis Prognose für die Zukunft sieht düster aus: Sollte die israelische Gesellschaft sich nicht von ihrer rassistischen Haltung und ihrem Apartheidsgebaren gegenüber Andersdenkenden und ihren palästinensischen MitbürgerInnen abwenden, drohe dem Land ein absolutes Chaos, so ihre Prophezeiung. Dies würde nur noch durch einen totalen Krieg in der Region getoppt werden – ein „Unglücksfall“, wie Roni Hammermann es ausdrückt. Zum Beispiel wenn die arabischen Nachbarn Israel angreifen würden. Sie hofft das nicht. Aber woran glaubt sie noch? „Ich befürworte die internationale Boykottbewegung gegen uns und ich finde, der Druck von außen auf Israel muss zunehmen. Auch ihr Deutsche müsst mehr aufwachen! Kritik an Israel ist kein Antisemitismus, sondern notwendig – diese Behauptung ist Quatsch!“

Deutliche Worte einer Frau, die über sich sagt, dass sie nicht mehr weiß, ob sie in dieser Situation noch psychisch gesund sein kann. Wie antwortete Roni Hammermann zu Beginn unseres Gesprächs auf meine Frage, seit wann Machsom Watch aktiv sei? „Wir halten seit 2001 durch.“

Informationen: Machsom Watch und UN OCHA im Internet
Die israelische Organisation Machsom Watch begeht am Sonntag, 29.08.2021, ihr 20-jähriges Bestehen mit einer digitalen Ausstellung, für die man sich hier registrieren kann. Website: machsomwatch.org
Das Interview habe ich 2016 mit Roni Hammermann in Jerusalem geführt. Ich habe es minimal angepasst. Aktuelle Karten und Zahlen zu den palästinensischen Gebieten veröffentlicht das Büro der Vereinten Nationen UN Ocha auf seiner Homepage: United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs – occupied Palestinian territory | Home Page

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