Berlin

In Love. Forever

Wie es ist, eine besondere Freundin zu haben. Und sie dann plötzlich zu verlieren. Ein Text über ungewollte Abschiede und das, was bleibt.
Prolog

Der Tod ist seltsam.

Manchmal schleicht er sich von hinten an, greift seinem Objekt der Begierde um den Hals und drückt einfach zu. Oder er kommt über Nacht, gleitet sanft von den umliegenden Bäumen auf das Dach des Hauses, landet lautlos auf dem Fensterbrett und schmiegt sich dann in die Kissen des Menschen, den er begehrt aufzusuchen.

Er hat so viele Gesichter.

Der Tod kommt in Begleitung tödlicher Krankheiten. Er macht uns das Leben schwer. Reicht es nicht, er käme alleine? Oder er zöge sich wieder zurück?

Als ich Dich das erste Mal im Hausflur in der Gethsemanestraße traf, das war im Sommer 2008. Wir wohnten in Berlin-Prenzlauer Berg. Ich war gerade in das Hinterhaus eingezogen, Aufgang römisch drei, III. Du wohntest über mir, auf der anderen Seite im 4. Stock. Die Wohnung war noch kleiner als meine, aber gut geschnitten. Auf dem Weg mit dem abgeratzten Kokosteppich zu Dir nach oben stand eine riesige Wasserpflanze mit Ablegern, die Du sorgfältig feucht hielst. Ich lernte schnell: Diese Frau bewegt sich viel, Treppensteigen macht ihr gar nichts. Und sie mag Grünes. Sehr.

Neue Nachbarin

Du warst braungebrannt von der Berliner und Brandenburger Sonne und hattest blaue, strahlende Augen, die mich wach und angenehm musterten. Aber was mir am meisten auffiel, das war Deine natürliche Art als Du mit mir dort das erste Mal sprachst. Wir sagten „Hallo“ und stellten uns gegenseitig vor. Es war eigentlich unspektakulär, ein Kennenlernen unter neuen Nachbarinnen, aber ich erinnere mich, wie ich danach dachte: Was für eine symphatische, natürliche Frau.

Eine Freundin von mir hat mal zu Studienzeiten einen revolutionären Satz gesagt: Sie sei in jeden ihrer Freunde und Freundinnen auch irgendwie verliebt. Wir redeten anschließend darüber, dass Verliebtsein nicht unbedingt immer mit Sex zu tun haben muss. Und dass man seine Freunde leidenschaftlich lieben kann. Dieser Satz passte sosehr zu mir, dass er mich fortan begleitete.

Eine Hausgemeinschaft

Wann ich mich genau in Dich verliebt habe, weiß ich nicht mehr. Vielleicht war es an dem Nachmittag als ich von der Redaktion nach Hause kam. Ich war als freie Journalistin für eine Tageszeitung tätig. Als dort der Gürtel immer enger geschnallt werden musste, wurde ich wie andere junge RedakteurInnen unschön geschasst. Zack, das war’s. Mir war hundeelend. Leichenblass kam ich von der Redaktion aus Mitte nach Hause und habe intuitiv sofort bei Dir geklingelt. Du hast mich reingelassen, ohne viele Worte, und mir einfach zugehört. Ich saß an dem Küchentisch, an dem wir viele Jahre später immer noch saßen, und habe Dir erzählt, wie tief getroffen ich sei von dieser Kündigung. Dieses  – gänzlich frei von Vorurteilen –  von Dir Angenommen-Werden und So-Sein-Können wie man ist in diesem Moment, das war eine der ganz großen Eigenschaften von Dir.

Voller Bewunderung

Unsere Nachbarschaft entwickelte sich zu einer Haus-, ja fast Lebensgemeinschaft. Du warst immer da, die Konstante in meinem Leben. Wir aßen zusammen, bekochten uns, wir machten Tee, luden uns gegenseitig ein. Ich mochte Deine pragmatische, naturverbundene Art und bewunderte Deine Fachkenntnisse zu Stadtplanung, Yoga, Ernährung, Bewegung und allen möglichen Orten in Brandenburg, die Du so gut kanntest.

Wir machten viele Ausflüge am Wochenende und die Berliner Bäderbetriebe unsicher. Dank Dir habe ich viele Schwimmbäder von innen gesehen, von Ost bis West. Wir machten Witze über die Beine anderer und lachten dabei gleichzeitig über unseren eigenen Speck und erste Dellen.

Unser Freundschaftsweg

Du lerntest alle meine Freunde kennen. Wir redeten über Partner im Speziellen, Männer im Allgemeinen und unsere Freiheit. Letztere war extrem wichtig für uns beide, aber Du gingst noch einen Schritt weiter und löstest Dich aus alten Konventionen. Die Spannungen und Auseinandersetzungen mit Deiner Familie, Deine gut durchdachten Entscheidungen zu Deinem Berufsweg, Dein Burn-Out und die Konsequenzen daraus – das waren Stationen auf unserem Freundschaftsweg. Für Deinen Willen, nach Deinem Gefühl zu leben und ganz eng bei Dir zu sein, bewunderte ich Dich unendlich.

Ich war beschützt

Als mich mein Job ins Ausland trug und raus aus unserer Gemeinschaft, war das nie ein Bruch. Ich wusste, dass Du nicht so international mobil bist. Es war einfach nicht Dein Ding, um die Welt zu jetten und Leute zu besuchen. Verbunden blieben wir dennoch über die vielen Berlinbesuche und unser Fundament, das so gut und fruchtbar über die vielen Jahre gewachsen war. Es ist seltsam – immer in meinem Leben, wenn ein Mensch ging, kam ein neuer. Sie ersetzten sich nicht gegenseitig, dazu waren sie einfach zu einmalig. Aber es war so, als würde jemand immer dafür Sorge tragen, dass ich beschützt bin, mit guten Menschen an meiner Seite. Du warst einer davon.

Ein Glück

Im letzten Oktober habe ich Dich dann noch einmal gesehen. Wir tranken Aperol Spritz an der Spree und ließen Stunden lang die Beine und Seele baumeln am sowjetischen Ehrendenkmal im Treptower Park. Du hattest das an, was ich immer den „Berlin-Style“ nenne – T-Shirt, alte Jeans, Laufschuhe. Die Stadt ist laissez-faire, es passte mal wieder alles zusammen und Du ganz mittendrin. Wir verabschiedeten uns und ich schaute Dir nochmal kurz nach an der S-Bahn. Die Sonne schien im Herbstlaub und ließ Dein Gesicht kurz aufleuchten: Was für eine geniale, tolle Frau. Was für ein Glück, diese Freundin zu haben!

Bonnbesuch

Wir redeten am Telefon über einen möglichen Bonn-Besuch. Ich sah Dich gedanklich in meiner gemütlichen Küche mit den Dachschrägen sitzen, mit Deinem wachen Blick und Deinen klugen Bemerkungen.

Das alles ist irgendwie nun vorbei. Und doch auch nicht.

Denn ich habe die Aufgabe, zu verstehen, dass Du jetzt tot bist.

Du Liebe

Als die Nachricht davon per E-Mail kam, musste ich mich rasch auf das Sofa setzen, das Du auch noch kennst aus meiner alten Wohnung. Ich glaube, ich habe kurz aufgeschrien. Drei Monate hast Du gekämpft mit Deiner Krebserkrankung, bis zur Erschöpfung und doch voller Hoffnung, dass Du es schaffen könntest und wieder gesundwirst. Deine Krankengeschichte ist eine kurze, heftige.

Am 11. Juli 2019 bist Du gestorben.

Dieses Glück, Dich gekannt zu haben und mit Dir befreundet gewesen zu sein, wird die Schatten überlagern. Und dann, da bin ich mir sicher, wird die Sonne wieder besonders golden strahlen. Vor allem an Deinem Lieblingsort. In Love. Forever!

Gedenkseite für Beate

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Eine Frage der Menschlichkeit 

In den deutschen Kinos läuft derzeit „Die Unsichtbaren – Wir wollen leben“, ein Film über vier Berliner Juden, die während der Nazizeit im Versteck überleben konnten. Jetzt — 75 Jahre später — hat die Bundesregierung entschieden, die Stelle einer/eines Antisemitismus-Beauftragten zu schaffen. Haben wir Deutschen nichts gelernt seitdem?

„Mich hat sehr berührt, dass dieser junge Mann im Film am Ende sagt, wenn man ein einziges Menschenleben rettet, dann rettet man die ganze Welt.“ Ein Publikumsbeitrag im Abaton-Kino in Hamburg am Sonntagmorgen. 200 Menschen sind gekommen, um sich den auf Zeitzeugen  basierenden Film „Die Unsichtbaren“ anzuschauen und nach der Vorführung darüber zu diskutieren. Der junge Mann im Film ist Cioma Schönhaus, einer der Protagonisten aus Berlin, der die Nazizeit — immer auf der Flucht und in dauernder Gefahr, erkannt und verraten zu werden, überleben konnte. Der Reichspropaganda-Minister Joseph Goebbels hatte 1943 Berlin als „judenfrei“ proklamiert. Tatsächlich hatten sich bis dahin etwa 7000 Juden dem Deportationsbefehl in den Osten widersetzt und lebten fortan im Untergrund in der Hauptstadt. „Die Unsichtbaren“ existierten nun offiziell nicht mehr. Sie schlüpften unter bei Freunden und Fremden, wochen- oder tageweise, illegal, ohne Geld und Papiere. Dieser Lebensgefahr setzen sich auch ihre Helfer aus. Menschen, die aus allen Schichten kamen, manchmal keine politischen Absichten verfolgten, aber tief in sich spürten, dass der tödliche Auslöschungsstrategie der Nationalsozialisten etwas entgegengesetzt werden musste.

Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten

Schönhaus zitiert in der Schlussszene seine Retterin Helene Jacobs. Sie ermöglichte ihm, bis zum Schluss in einer Werkstatt als Passfälscher zu arbeiten. Am Ende warnte sie ihn noch vor einer drohenden Verhaftung — und wurde selbst abgeholt. Helene Jacobs gehörte der Bekennenden Kirche an und wurde zu 2,5, Jahren Zuchthaus verurteilt. Sie habe ihm und anderen Juden mit falschen Papieren, Lebensmitteln und Quartier geholfen, um „etwas für ihr Vaterland“ zu tun, habe sie ihm einmal gesagt. Das hat ihn, den damals jungen Grafiker, der sich auf dem Fahrrad am Kriegsende durch das zerbombte Deutschland in die Schweiz durchschlug, sehr beeindruckt. Schönhaus konnte sich ein neues Leben in der Schweiz aufbauen, er gründete eine Familie und starb 2015. Vor der Kamera sieht man einen Menschen, der mit sich und seiner Umwelt im Reinen ist. Vermutlich auch, weil er in dem Wahnsinn der Nazizeit, den er durchlitt, auf die Frage nach Menschlichkeit eine positive Antwort erleben konnte.

Der eigene Rassimus

Die Menschen in dem Kinosaal haben einen Altersdurchschnitt von 55+. Junge Menschen unter 20 Jahren sind nicht gekommen. Die moderierte Diskussion, die die Hamburger Balint-Gesellschaft übernommen hat, ist emotional. Alle Teilnehmer drücken ihre Gefühle aus, packen in Worte, was sie beschäftigt. Aber ein wichtiger Aspekt fehlt: Was ist heute los in Deutschland? Wie steht es um unseren eigenen Rassismus und Antisemitismus? Sind wir, die Zuschauer, auf der sicheren Seite, weil wir gebildete Menschen sind, die im Warmen sitzen?

Viele Fragezeichen

Zur Erinnerung: Eine rechte Partei sitzt im Bundestag und hat eine signifikante Wählerschaft in den neuen Bundesländern vorzuweisen. Die NSU konnte jahrelang agieren und morden ohne dass Staat und Gesellschaft es gemerkt haben (oder merken wollten). In Dessau wird ein Prozess nach langer Zeit wieder aufgerollt mit vielen Fragezeichen an die deutsche Justiz, bei dem ein Asylbewerber aus Sierra Leone mutmaßlich in seiner Zelle verbrannt wurde. Die Bundesregierung hat gerade das Amt einer/eines Antisemitismus-Beauftragten bestätigt.

Antisemitismus Mitten drin

Der Antisemitismus-Bericht, der seit 2013 jährlich erscheint, gibt auf rund 300 Seiten Auskunft darüber, welche Formen des Antisemitismus es gibt, wie dieser ausgeprägt ist und welche Handlungsmöglichkeiten sich daraus ergeben. Ein Punkt darin ist, dass Einrichtungen, die aufklären und fördern, unbedingt finanziell sichergestellt werden sollten. Ein paar Kapitel sind auch dem „Israel bezogenen Antisemitismus“ geschuldet. In diese Kategorie, die naturgemäß parallel zum Nahostkonflikt und Israels Anspruch auf die Westbank, Gaza und Jerusalem entstand, fällt vermutlich das Verbrennen israelischer Flaggen auf Demonstrationen in Deutschland. Auch geht der Bericht auf Judenfeindlichkeit unter Migranten und Muslimen ein. Dennoch stellt er am Ende  heraus: Antisemitismus ist ein primär rechtes Problem. Es muss in der Mitte der Gesellschaft bekämpft werden. Das Problem existiert in unseren Emotionen, eine Messung eben dieser ist eine schwierige Angelegenheit. Wir können uns ergo nicht zu den Wissenden stilisieren, die sich besser anders verhalten und die wir so gerne wären.

Aktiv werden

Zivilcourage kann man üben: In Trainings und Diversity-Workshops. Aber vor allem in Alltagssituationen, in ganz normalen Gesprächen. Wie reagiere ich, wenn ich mitbekomme, dass auf dem U-Bahn-Steig ein schwarzer Mann von Polizisten nach seinen Papieren gefragt wird? Nehme ich als Nicht-Betroffene das „Racial Profiling“ überhaupt wahr? Ich kann eingreifen. Ich kann es auch sein lassen. Habe ich Kontakt mit jüdischen Schüler:Innen, Nachbar:Innen, Bekannten, der Gemeinde in meinem Ort? Sogar die Volkshochschulen bieten Kurse zu Judentum und jüdischer Literatur an. Ich kann aktiv werden. Ich es auch sein lassen.

Erlebnis in Berlin

Ich erinnere mich, wie ich vor vielen Jahren einmal in einer Berliner-S-Bahn Richtung Steglitz die Zeitung „Jüdische Allgemeine“ las. Mir gegenüber saß ein Ehepaar, das sehr gut gekleidet war, beide etwa Ende 50. Die Frau guckte auf den Zeitungstitel, beobachtete mich eindringlich und guckte dann wieder auf den Titel. Schließlich trafen sich unsere Blicke und sie lächelte mich an. Ihr Lächeln bestand aus einem Mund, der zu einer Grimasse verzerrt war. In ihren Augen konnte ich eine Mischung aus Mitleid und Argwohn entdecken.

Dieses Erlebnis wäre eigentlich klein und fast unbedeutend gewesen. Hätte es mir damals nicht so deutlich gezeigt, was es bedeutet, ganz plötzlich als „anders“ wahrgenommen zu werden. Mitten in Berlin.

Der Film „Die Unsichtbaren“ erschien am 26.10.2017 in den deutschen Kinos. Er ist mittlerweile auf Blu-Ray, DVD und digital erhältlich. Mit Max Mauff, Alice Dwyer, Ruby O. Fee und Aaron Altaras. Regie: Claus Räfle

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