Liva Haensel

HIER und JETZT

Jeder Mensch hat eine Lebensgeschichte, die es wert ist, erzählt zu werden. Deshalb lohnt es sich, in die eigene Familienforschung einzutauchen. Denn sie gibt uns Antworten auf wichtige Fragen im Hier und Jetzt. So wie mir die Fluchtgeschichte meiner Mutter.

Ich erinnere mich nicht genau, wann ich anfing, Fragen zu stellen. Vermutlich schon früher als mir bewusst ist. Mit 20 Jahren war ich in der Krankenpflegeausbildung in Hamburg und dort hatte ich den ganzen Tag mit zumeist älteren Menschen zu tun. Wenn man auf Station ist und sie pflegt, kommt man ihnen nahe. Beim Bettmachen, Fiebermessen, Urinkatheterlegen, beim Füttern und der Medizingabe.

Das Gespräch

Das alles waren Tätigkeiten am Menschen oder – so nannten wir Pflegekräfte es damals -„am Bett“. Das Wichtigste aber, das waren die Gespräche. Die Fragen und das Zuhören. Es war eigentlich egal, ob man gerade die Haare einer Patientin kämmte oder ihren Rücken abseifte, während sie in der Badewanne saß, ob man als Krankenpflegeschülerin Teebeutel sortierte oder Venenwickel aufrollte – das Gespräch mit den Menschen dort, das war zentral.

Die Kostbarkeit einer Lebensgeschichte

Ich habe damals viele Geschichten gehört auf Station und später wurden es noch mehr. Als ich als Studentin in Berlin todkranke Menschen zuhause in ihren vier Wänden in ihrer letzten Lebensphase begleitete, berichteten einige gern von dem „Alten Berlin“. Mit dem „Alten Berlin“ war die Hauptstadt vor ihrer Zerstörung im Zweiten Weltkrieg durch die Bombenangriffe der Alliierten gemeint. „Es war wunderschön, kein Vergleich mit jetzt“, sagte eine Steglitzerin, die ich wegen ihres Diabetes zuhause betreute. Sie berichtete mir, wie der Potsdamer Platz ausgesehen hatte und das Haus Vaterland dort – ein prächtiges Gebäude mit zahlreichen Restaurants und Bühnen – und wie sie dort Kaffee trinken war und sich dafür mit einem feinen Kleid zurechtgemacht hatte. Es war so bildlich wie sie das erzählte, dass ich sie vor mir sah, wie sie die dort die Leipziger Straße entlangging, in ihrem schwingenden Kleid, ganz jung und lebenshungrig. Ich konnte sie einfach fragen, wie Berlin damals ausgesehen hatte und sich anfühlte, wie sie die Stadt jetzt sieht, was damals passiert war nach dem Krieg, eigentlich nach allem. Das ist ein großes Glück! Dass Menschen gerne erzählen – wenn man ihnen Fragen stellt – und dass es eigentlich keine langweiligen Geschichten in dieser Welt gibt.

Familiengeschichte im Brennglas

Die eigene Familiengeschichte ist ein Teil von uns. Sie kann uns Angst machen oder ganze Schätze nach oben holen, hinein ins Licht. Vielleicht auch beides. Die Frage „Was ist damals passiert?“ ist keine, die in zwei Sätzen beantwortet werden kann. Sie wird Mosaiksteinchen aufzeigen, kleine und größere. Einige blitzen und blinken, andere sind verstaubt, ja, kaum zu sehen. All das ist normal. Wer sich auf die Suche nach der Vergangenheit begibt, der findet sich an Weggabelungen wieder und manchmal auch Irrwegen. Denn Erinnerungen sind meistens oral überlieferte Erzählungen ohne Gewähr auf Vollständigkeit. Karten und Fotos können das Bild vervollständigen. Unsere Suche nach der eigenen Geschichte kann mühselig sein. Doch sie wird belohnt: mit Mosaiksteinchen, die ein neues Bild auch unseres eigenes Lebens ergeben. Des HIER und JETZT. Das ist eine wunderbare Erfahrung. Diese Steine pflastern und prägen unseren eigenen Lebensweg. Er führt direkt in unsere Zukunft. Vielleicht fangen wir an, unsere Familie besser zu verstehen – und dadurch uns selbst. Unsere eigene Familiengeschichte kann uns Kraftquelle sein für alles Kommende!

Kindheit im Zweiten Weltkrieg

Die Familiengeschichte meiner Mutter ist eine besondere. Weil es auch ein Teil meiner Geschichte ist, da meine Mutter uns Kinder natürlich geprägt hat. Gleichzeitig ist sie aber auch eine unter tausenden. Denn viele Kinder im Zweiten Weltkrieg haben es so oder so ähnlich erlebt. Aber ich bin mir sicher: Der Sommer an der Ostsee 1944 wie sie ihn erlebt hat, muss einzigartig, ja, herrlich gewesen sein!
Ich glaube, meine Mutter war viel draußen damals. Es war ein sehr heißer Sommer in Pommern an der Ostsee. Die Kinder tobten durch die Kiefernwälder und über die Dünen. Meine Mutter hatte kurze Kleider an, ein sechsjähriges Mädchen, der Stoff reichte ihr bis zu den Knien und sie trug geflochtene Zöpfe, die zu Affenschaukeln eingebunden waren. Auf Schwarz-Weiß-Fotos sehe ich einen fröhlichen, entschlossenen, kleinen Menschen, der selbstbewusst in die Kamera guckt. Mein Großvater hatte damals schon einen hochwertigen Fotoapparat, den er ausgiebig nutzte, um Fotos von seinen Kindern und seiner Frau zu machen. Urlaub in Ostpreußen, Strandkörbe und überall spielende, hüpfende Kinder im Sand. Ich habe diese Fotos im Original gesehen. Meine Großmutter hatte sie trotz der Flucht aus Königsberg retten können und später feinsäuberlich in Fotoalben eingeklebt, mit kurzen erklärenden Sätzen dazu. So, als wäre die Welt im Fotoalbum wenigstens ein bisschen in Ordnung geblieben.

Ein Foto vor dem Sturm

Es gibt ein Foto, auf dem meine Mutter mit ihren Geschwistern zu sehen ist: Peter, der ältere Bruder, die jüngere Schwester Gisela, die kleine Irmgard – genannt Irmi – die Mutter Lieselotte und ihre Eltern. Die Gruppe liegt entspannt im Sand. Sie wirkt völlig gelöst. „Opa, lach mal, forderten wir unseren Opa auf. Und dann lachte er und sein kugelrunder Bauch hüpfte dabei auf- und ab, was uns noch mehr Spaß machte“, erzählt meine Tante Gila heute. Später stellte ich fest, dass dieses Foto genau die Gruppe derjenigen Verwandten von mir abbildete, die knappe 1,5, Jahre später gemeinsam auf die Flucht gehen sollten. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, das sich das Leben in eine völlig andere Richtung drehen würde.

Die Ruhe vor dem Sturm.

Ein Berliner Waisenhaus

Mein Urgroßvater Willi Heinrici war Volksschullehrer und Berliner. Er war seit 1920 Leiter der Wadzeck-Anstalt, einer evangelischen Stiftung, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, sich um Waisenkinder zu kümmern. Die Stiftung hatte ihren Sitz in Berlin-Lichterfelde in der Limonenstraße. Etwa 120 Kinder im Alter von drei bis 18 Jahren lebten damals in der Wadzeck-Anstalt und gingen dort auch zur Schule. Als die Bombenangriffe 1943 in Berlin immer heftiger wurden, entschied die Leitung, dass die Kinder evakuiert werden sollten. Das Erholungsheim der Stiftung an der pommerschen Ostseeküste war eine große Villa mit mehreren Nebengebäuden. Mann und Maus zogen nun in den kleinen Ort Deep nahe Kolberg. Das Fischerdorf direkt an der Ostsee war durchzogen von vielen Dünen und einem Kiefernwald. Ein idealer Ort zum Spielen für Kinder.

Von Königsberg nach Deep

Meine Mutter lebte zu diesem Zeitpunkt noch in Königsberg. Die Berliner Familie Schultes war aufgrund der Tätigkeit des Vaters Dr. Werner Schultes 1938 von Berlin in die preußische Hauptstadt gezogen. Mein Opa war Arzt. Er wollte seine internistische Facharztausbildung an der Universitätsklinik in Könisgberg absolvieren und hatte dort noch gute Beziehungen aus der Zeit seiner Medizinstudiums. „Wir hatten eine große, schöne Wohnung in der Nähe der Wallanlagen“, erinnert sich meine Mutter. Die Kinder spielten im Innenhof mit den Nachbarn, rauften miteinander und vertrugen sich wieder. Meine Oma, Liselotte Schultes, war medizinisch-technische Assistentin und hatte ihre Ausbildung an der Berliner Charité gemacht. Sie hatte sich, wie ihr Mann, ganz der Medizin verschrieben und hätte es fast selbst studiert. Als die Angriffe auf Königsberg immer heftiger wurden, entschloss sich meine Oma 1944 auf Anraten ihres Mannes, der als Militärarzt und Offizier ein Lazarett in der Nähe der Front leitete und dadurch immer aktuelle Nachrichten parat hatte , Königsberg zu verlassen. Mit ihren vier Kindern im Alter von acht bis zwei Jahren verließ sie die liebgewonnene Stadt und zog vorübergehend zu ihren Eltern und deren Waisenkindern nach Deep. Dort, in dem kleinen Dorf, schien alles noch ruhig zu sein. Man könne „Pommern halten“, hieß es.

Die Ruhe vor dem Sturm

Mein Onkel Peter, 1936 geboren, war damals Grundschüler. Kurz vor seinem Tod im Jahr 1986 hatte er noch einen Bericht verfasst über die Zeit in Deep 1944, die er als sorglos und sehr frei empfunden haben muss. Er war bereits zwei Jahre in Königsberg zur Schule gegangen. In Deep gab es nur eine einfache Volksschule, deren Schulbank nun eine bunte Mischung jüngerer und älterer Kinder drückte – Einheimische und Flüchtlinge. Die Idylle der Wadzeck-Villa an der Ostsee war die Ruhe vor dem Sturm. Denn Nazi-Deutschland war kurz vor seinem endgültigen Untergang. Millionen Deutsche würden sich Wochen und Monate später auf die Flucht begeben, jetzt noch nichtsahnend, darunter auch die Familie Schultes gemeinsam mit den 120 Kindern der Wadzeck-Anstalt, dem Personal und ihrem Leiter Willi Heinrici.

Die Russen kommen

Onkel Peters Bericht endet im März 1945 mit den Worten: „Die Russen kommen nach Deep.“ Seine Schwester, die 6-jährige Marlise, meine Mutter, weiß noch, dass sie alle am 11. März um die Mittagszeit die Wadzeck-Anstalt fluchtartig verließen. Alle Kinder, das Personal, die Lehrer, mein Urgroßvater und seine Familie. Sie gingen zu Fuß los, meine Oma schob den Kinderwagen mit etwas Gepäck und der kleinen Irmi darin. „Wir hatten nichts mit, nur die eigenen Kleider, die wir am Leib trugen, auch meine Puppe oder irgend ein anderes Spielzeug musste ich zurücklassen“, sagt meine Mutter. Und so wurde aus einer ganz normalen, glücklichen Kindheit…

… eine Kindheit auf der Flucht.

Wie ging es weiter? Über die Geschichte meiner Familie auf der Flucht und nach 1945 werde ich hier in meinem Blog weiter berichten.

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Mitten ins Gesicht

Der Tweet des AFD-Politikers Jens Maier zeigt, dass Rassismus in Deutschland immer noch tief verankert ist. Doch statt mit dem Finger nur auf die AfD zu zeigen, sollten nicht-von-Rassismus-betroffene Deutsche jetzt selbst aktiv werden. 

Eigentlich sollten wir fast dankbar sein. Dankbar für die Ohrfeige, die der rassistische AFD-Politiker Jens Maier  – unbekümmert, dumm – uns weißen Mainstream-Menschen gerade mitten ins Gesicht verpasst hat. Denn vielleicht wachen wir ja jetzt nach dem Knall auf und nehmen unsere Verantwortung ernst.

Rassistischer Tweet

„Dem kleinen Halbneger scheint einfach zu wenig Beachtung geschenkt worden zu sein, anders lässt sich sein Verhalten nicht erklären.“ Dieser rassistische Tweet von Maier erschien letzte Woche in seinem Twitter-Stream und enthält seine Reaktion auf eine Bemerkung Noah Beckers, dem Sohn von Tennisspieler Boris Becker. Dieser hat Maier jetzt angezeigt.

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Screenshot auf twitter.com

Wir haben das Jahr 2018. Es war genau 2001 als die dritte UN-Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban/Südafrika die Sklaverei zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärte und den europäischen Sklavenhandel und Kolonialismus als historische Basis für Rassismus anerkannte.  2007 schließlich erklärte die UNO-Vollversammlung den 25. März zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer der Sklaverei und des transatlantischen Sklavenhandels“. Die Linie zwischen europäischem Kolonialismus und Rassismus, der bis heute in jeder unserer Gesellschaftsschichten zu finden ist, ist gezogen. Wir haben – zumindest äußerlich – verstanden, dass es da einen Zusammenhang gibt. Deutschland war – wie auch Portugal, Frankreich, England und Spanien – eine Kolonialmacht und hat Afrikaner missbraucht, versklavt und getötet.

„Weißes Berlin“

Aber die Macht der Worte entgleitet uns schnell  – sie wird von den meisten weißen Menschen schlicht nicht als solche wahrgenommen.  Noah Becker hatte in einem Interview gesagt, dass Berlin im Vergleich zu London oder Paris eine „weiße Stadt“ sei und er selbst wegen seiner braunen Hautfarbe dort attackiert werde. Noah Becker ist Musiker und DJ. Er lebt gerne in Berlin, sagt er. Aber als Sohn einer schwarzen Frau und eines weißen Vaters ist er von Rassismus betroffen: Er und seine Freunde würden immer wieder beschimpft werden, fremde Leute machten sich über seine Haare lustig.

Wohl unwahrscheinlich

Maier redete sich nach der Veröffentlichung seines Tweets damit heraus, dass „ein Mitarbeiter“ diesen freigesetzt habe. Eine PR-Panne also, die darauf beruht, dass die AFD noch nicht so fit in Social-Media-Strategien ist? Wohl eher unwahrscheinlich. Denn Maiers Tweet passt vorzüglich in das Parteibild der AFD. In seinem Twitter-Stream wird der Dresdner nicht müde, den Islam zu verteufeln und die christlichen Werte des Abendlandes zu betonen.

Das N*Wort betraf uns nicht

Maiers „Entgleisung“ ist keine im eigentlichen Sinne, zeigt sie doch sein wahres Gesicht. Und seine offensichtliche Wut darüber, dass Berlin vielleicht nicht ganz so offen sein könnte wie andere Hauptstädte. Wie aber will der Jurist – ein weißer deutscher Mann mittleren Alters – das beurteilen? Die AfD ist eine Menschen verachtende Partei, die ausgrenzt, indem sie klassisch das Eigene und das Fremde als unüberbrückbare Gegensätze gegenüberstellt. Aber Rassismus gibt es überall, wir alle sitzen mit im Boot. Wir, die wir mehrheitlich nicht von Rassismus betroffen sind. Weißen Menschen machte es nie etwas aus, dass N*-Wort zu benutzen oder es zu hören – natürlich nicht, es betraf sie einfach nicht. Erst als schwarze Menschen die rassistischen Begriffe in Frage stellten und ihre Diskriminierung verdeutlichten, bewegte sich etwas.

Bitter nötig

Doch Deutschland ist langsam und die Kolonialgeschichte ein Kapitel, das gerne damit abgetan wird, dass die Kolonialpolitik nicht sehr erfolgreich und nur gering vonstatten gegangen sei. Wenn wir uns aber – und hier spreche ich ganz explizit uns weiße deutsche Menschen an – tatsächlich von der AFD unterscheiden wollen, dann müssen wir massiv an uns arbeiten. Worte benutzen wie N*? Geht nicht. Schwarzafrika? Geht nicht. Wir sollten einschreiten, wenn wir Rassismus erleben, der sich so oft in einem einzigen Wort zeigt und der immer und überall da ist. Wir müssen unsere eigenen Bilder in unserem Kopf hinterfragen. Wir müssen mehr lesen zu dem Thema, mehr debattieren. Aber vor allem sollten wir uns mit Menschen anderer Hautfarben in Deutschland darüber unterhalten, wie es ihnen geht. Darüber, wie sie unser Verhalten sehen und beurteilen. Wir müssen ihnen zuhören und wir können von ihnen lernen. Denn das haben wir bitter nötig.

Die Autorinnen Susan Arndt und Nadja Ofuatey-Alazard (Hrsg.) haben ein Lexikon veröffentlicht, das vornehmlich von people of color geschrieben wurde und weiße Menschen darin unterstützt, sensibler mit ihrer eigenen Sprache umzugehen: „Wie Rassismus aus Wörtern spricht – (K)erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagwerk“, Unrast-Verlag (2011)

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