Palästina

Umkleidekabine mit Hocker. Foto: iStock

Das warme Licht

Die aktuelle Krise in Palästina und Israel betrifft die Menschen am meisten, die dort leben. Sie berührt aber auch diejenigen, die Israel und Palästina gut kennen und schätzen. Können wir in einer Krise den Lichtschalter auf „warmes Licht“ einstellen? Gerade jetzt wäre das wünschenswert.

Eine Reflektion von Liva Haensel
Manchmal ist es gut, etwas naiv zu sein. Naivität erhellt das Leben, aber in einem weichen Licht. Naivität heißt, dass man nicht alles realistisch und nüchtern betrachtet. So, wie man sich sonst nur in einer grell erleuchteten Kleiderkabine eines deutschen Kaufhauses nüchtern im Spiegel anguckt, wenn man die neueste Bademode testet. Bademode anprobieren bei grellem Licht, das ist das Gegenteil von Rausch.
Das ist ein gnadenloser Zustand, so wie Gott einen eben schuf: Nackt, mit Falten, Hängebacken, Cellulitis, Knochen, hervortretenden Adern, mit Muskeln und Fettzellen an den falschen Stellen.

Mit Naivität wird das Licht in der Kabine weicher, stimmungsvoller, fließender. Das Schöne und Gute tritt hervor, und das beruhigt.

Eine Zeitlang, in der ich als Studentin in Berlin lebte, gewöhnte ich mir an, nur noch in wenige Klamottenläden zu gehen, deren Kabinenlicht man dimmen konnte. Wenn ich den Lichtschalter auf „warm“ anklickte, nahm ich mich anders wahr. Ich war noch dieselbe Person, aber ich sah jetzt anders aus. Die meisten Tops und Bikinis saßen dann und sie standen mir gut. Das warme, weiche Licht vor dem Spiegel schmeichelte mir. Meine von mir streng wahrgenommenen Schwachstellen traten in den Hintergrund. Ich wurde gnädiger mit mir.

Obwohl ich nicht viel Geld besaß im Studium, kaufte ich bei diesen Gelegenheiten meistens die Sachen, die ich bei diesem Licht anprobiert hatte. Später, als ich sie zuhause noch einmal testete, merkte ich, dass ich mit diesen Kleidungsstücken den guten Moment in der Kabine verband; denjenigen, in dem sich durch das Licht mein Spiegelbild mit meinem Selbst ausgesöhnt hatte. Es waren die Stücke, die ich später am liebsten und sehr oft trug.

Etwas Versöhnliches

Jetzt gerade merke ich, dass ich diesen Lichtschalter mit seinen unterschiedlichen Dimm-Stufen vermisse. Das weiche, warme Licht, das es gut meint mit uns Menschen. Dass etwas Versöhnliches hat, vielleicht Naives.
Ich kenne den Nahostkonflikt seit ich 19 Jahre alt bin. Das erste Mal fuhr ich mit meiner Familie nach Israel und Ägypten, da war ich 15. Damals konnten wir einfach nach Gaza reinfahren mit unserem israelischen Taxi, weil der Gazastreifen damals auch intern noch von Israel besetzt war.

Unsere zwei Tage in Jerusalem faszinierten mich damals so sehr, dass ich entschloss: In dieser Stadt möchte ich einmal für längere Zeit leben. Mein Interesse für die deutsch-jüdische Geschichte hatte sich schon ein paar Jahre vorher entwickelt. Wie viele andere junge Menschen in Deutschland wollte ich den Holocaust begreifen, das Dritte Reich, die Unglaublichkeit des Massenmordes der Nationalsozialist*innen. Wie war es soweit gekommen? Warum war das passiert? Bis heute beschäftigt mich diese Frage sehr. Ich denke, das ist gut so. Sie treibt mich an und lässt mich nie ganz ruhen.

Die Luft der Altstadt

Im Freiwilligendienst nach dem Abitur lebte ich in Jerusalems Altstadt, wo ich in einem Hospiz tätig war. Naiv war ich davon ausgegangen, dass es sich um Israels Staatsgebiet handelte. Erst nach und nach lernte ich, dass Ost-Jerusalem – so wie die Westbank, der Gazastreifen und die Golanhöhen – 1967 von Israel besetzt worden waren. In Ost-Jerusalem lebten Palästinenser*innen in dem muslimischen und christlichen Viertel, während in dem armenischen vornehmlich Armenier*innen und in dem jüdischen Viertel Jüdinnen und Juden lebten.
Mich faszinierte diese Vielfalt ungemein. Noch heute erinnere ich mich an die ersten Eindrücke nachdem ich in Jerusalem mit meinem Rucksack angekommen war: Ich sitze am Damaskustor auf den Stufen und schaue auf den Eingang in die Altstadt und die vielen Menschen. Orthodoxe eilen Richtung Klagemauer, arabische Frauen in traditionell bestickten Gewändern verkaufen Thymian auf Decken, die sie vor sich ausgebreitet haben. Zahlreiche Händler*innen ringen mit Tourist*innen um die besten Schekelpreise.

45 Minuten später in Jerusalem

Ich schließe die Augen und atme die Luft des Suks, des Basars, mit seinen Gewürzen, seinem Parfüm, der Minze, seinem Kaffee mit Kardamom und den von Öl getränkten Falafel Bällchen ein.
Ein Atemzug, tausend Gerüche. Die Altstadt brummt wie ein surrender Bienenkorb. In diesem Moment fühlte ich mich vollkommen zuhause.
Dieses Gefühl des Zuhause Seins hatte ich viele Male immer und immer wieder in Jerusalem. Meine Zeit als Volontärin hatte mich geprägt. Ich kehrte immer wieder in diese Stadt zurück und lebte dort für Monate oderJahre als Journalistin, Touristin, Menschenrechtsbeobachterin, Beraterin, Reisende und Heimkehrende. Sobald ich am Flughafen in Tel Aviv ankam, bestieg ich ein Sherut, ein israelisches Sammeltaxi, und war 45 Minuten später dort. Heimat.

Die Rückgabe wurde nicht erfüllt

Manchmal verloren wir uns etwas aus den Augen, die Stadt und ich. Dann schaffte ich es aus verschiedenen Gründen nicht, Jerusalem zu besuchen und ihren Glanz wahrzunehmen, weil mir mein alltägliches Leben dazwischenkam. Aber das machte nichts. Jerusalem war da und meine Liebe zu der Stadt blieb. Ich nahm Veränderungen wahr, die es früher nicht gegeben hatte: Den Checkpoint am Damaskus-Tor beispielsweise gab es früher nicht. Die Sicht auf die sich durch die engen Altstadtgassen schlängelnden Menschen war vollkommen freigewesen.

Mauerbau und Osloer Abkommen


Durch den Mauerbau Israels 2003 konnten sich viele Israelis und Palästinenser*innen nicht mehr in Jerusalem treffen und zusammen für Frieden arbeiten, so wie vorher. Die Freude über die Friedensverhandlungen und die Osloer Verträge ebbten Ende der 1990iger und zu Beginn des neuen Jahrtausends immer mehr ab. Die Palästinenser*innen hatten eine Rückgabe ihrer Gebiete erhofft und dass ihnen dies zumindest einen kleinen, eigenen Staat einbringen würde.

Doch die abgemachten fünf Jahre der Rückgabe – festgelegt in Oslo unter Aussparung der Antworten auf die Kernfragen Rückkehrrecht der Flüchtlinge, Status von Jerusalem, Grenzen und Regierungsstrukturen, Wasserressourcen – wurden nicht erfüllt. Verhandlungen und Friedensinitiativen endeten in Sackgassen Derweil beteten Jerusalems Menschen an der Klagemauer, in der Grabeskirche und im Felsendom weiter.

Eine tiefe Depression

Bis heute ist ein palästinensischer Staat nicht in Sicht und keine Hauptstadt für Palästinenser*innen. Die Westbank und Ost-Jerusalem sind nach wie vor völkerrechtswidrig von Israel besetzt. Dort leben mittlerweile 700.000 jüdische Siedler*iinnen. Die Zahl der Outposts – Mini-Siedlungen – die sich später in ganze Siedlungsketten einfügen – nehmen seit Jahren laut UN OCHA und der israelischen Organisation Peace Now zu. Einige Palästinenser*innen und Israelis können sich einen gemeinsamen Staat vorstellen, der zweifelsohne klare Regelungen bedingen müsste. Die Mantra artige Wiederholung der Zwei-Staatenlösung durch Politiker*innen hat bisher keine Ergebnisse gezeigt, die es beiden Völkern erlaubt, dort friedlich ohne Besatzung leben zu können.

Eine tiefe Depression, unterbrochen von andauernden Schockauslösern bedingt durch die sich stetig ändernde Nachrichtenlage und die immer höher kletternde Zahl von Todesopfern, ist eingetreten. Eine totale Unsicherheit hat sich wie Nebel ausgebreitet. Er umhüllt die Menschen in Israel und Palästina in ein graues, gefährliches Nichts.

We are so tired

„We are at the very end. Israel’s habitants want revenge now for the kidnapping and murder of the Hamas and I fear that the government will do so”, schreibt mir ein israelischer Freund über Facebook. Er hat jahrzehntelang in einer israelisch-palästinensischen Organisation für Frieden gearbeitet.
„We are so tired. We feel totally alone“, schreibt mir ein palästinensischer Freund, der sich jahrelang mit jüdischen Siedler*innen aus seiner Nachbarschaft zum gemeinsamen Essen traf.

Ich lege mein Handy weg und muss schlucken.

Ich suche den Lichtschalter im Dunkel. Ich möchte das Licht auf „Warm“ stellen, auf schön und fließend. Ich möchte die Falten und Wunden sehen, aber in einem guten Licht. Tastend bewege ich meine Finger nun vorwärts. Suchend.

Wo ist er?


Ich möchte meine Naivität wahren. Meinen Glauben daran, dass wir uns als Menschen immer wieder neu begegnen können – zusammen mit unseren Schmerzen, die sichtbar sind, die uns miteinander verbinden.

Ich vermisse das warme Licht.

Da ist er. Ich kann ihn fühlen. Es war dunkel und ich habe ihn nicht gesehen.
Ich streiche vorsichtig über seine kleine Erhebung. Der Lichtschalter ist noch da.

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„WIR HALTEN DURCH“

Die preisgekrönte, israelische Frauenorganisation Machsom Watch beobachtet seit 20 Jahren die Lage an Checkpoints zwischen Israel und der Westbank. Dort unterstützt sie aktiv palästinensische ZivilistInnen. Mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit leisten die Mitglieder Widerstand gegen die Besatzung, obwohl sie selbst israelische Staatsbürgerinnen sind. Und riskieren damit viel.

Jerusalem – „Wenn wir könnten, mein Mann und ich, dann wir würden Israel am liebsten verlassen. Aber wir sind jetzt über 70, wir sind zu alt.“ Roni Hammermann sitzt auf einem beigen Ledersofa, beugt sich kurz vor und schaut ihr Gegenüber dann intensiv an. Sie denkt kurz nach, dann sagt sie. „Ich würde sehr gerne in Italien leben. Aber dort habe ich keine Freunde, keine Unterstützung. Also bleiben wir in Israel.“ Sie schweigt.
Wir sitzen in dem Wohnzimmer der Hammermanns in Nahlot, einem Stadtteil in West-Jerusalem.

Desillusioniert

Ich bin hierher gekommen, um mich mit einer der Gründerinnen von Machsom Watch über ihre Arbeit zu unterhalten. Die israelische Organisation wurde 2001 von Roni Hammermann mitgegründet. Jetzt wird sie 20 Jahre alt und begeht dies mit einer virtuellen Ausstellung im August 2021. Die Organisation besteht nur aus Frauen. Alle sind freiwillig aktiv, ohne Bezahlung, aber mit der Überzeugung im Kopf und im Herzen, dass die israelischen Kontrollpunkte in der Westbank abgeschafft werden müssen. So wie die israelische Besatzung insgesamt. Roni Hammermann ist ihre Vorsitzende. Sie hat den Aachener Friedenspreis verliehen bekommen und ist jetzt 76 Jahre alt. Und sie ist verzweifelt. Denn die israelische Menschenrechtsaktivisten-Szene ist auf ein Häuflein zusammengeschrumpft in den letzten Jahren. Und die Politik Israels wird immer rechter: „Hier ist soviel Hass in diesem Land, soviel Wut und Rassismus, das ist nur schwer auszuhalten“, sagt Roni.

Von Wien nach Jerusalem

Die studierte Slawistin war nie eine überzeugte Zionistin, obgleich der neugeschaffene jüdische Staat ihren Eltern 1930 zu einer sicheren Insel wurde. Beide stammten aus Österreich-Ungarn und mussten als vor den Nationalsozialisten verfolgte Juden fliehen. Roni wurde 1940 vor der Staatsgründung Israels im damaligen Palästina geboren, verbrachte aber ihre Schul-und Studienzeit in Wien. Mit 25 Jahren zog sie nach Israel und blieb. Nicht, weil sie sich unter Juden am wohlsten fühlte, sagt sie. Sondern weil sie an der Hebräischen Universität Russisch unterrichteten konnte und später dort Bibliotheksleiterin wurde.

Schwanger am Checkpoint

Die Mutter von zwei erwachsenen Kindern war immer in der Menschenrechts-Szene aktiv, erzählt sie. Aber 2001 gab es eine entscheidende Wende in ihrem Leben. Aufgerüttelt durch einen Artikel in der linksliberalen Zeitung Haaretz, in der über palästinensische Frauen berichtet wurde, die ihre Babys an einem Checkpoint bekommen mussten, weil ihnen israelische Soldaten den Zugang zu den Krankenhäusern auf der anderen Seite verweigerten, begann Roni Hammermann mit einigen anderen Frauen darüber zu diskutieren. Werdende Mütter, die ihre Kinder auf offener Straße gebären mussten und das unter Lebensgefahr, das war ungeheuerlich, erinnert sie sich: „Wir sagten uns, kommt, da müssen wir hingehen, wir müssen uns die Situation direkt vor Ort an so einem Checkpoint ansehen.“

Die Situation verschlechtert sich

Roni Hammermann am Checkpoint in Qualandia 2009. Foto: Tamar Fleishman

Aus dem Hingehen und dem sich Vor-Ort-Überzeugen wurde eine der meist geachteten Nichtregierungsorganisationen Israels. Mittlerweile zählt die Organisation mit dem hebräischen Namen Machsom Watch (Checkpoint Watch) mehr als 400 jüdische Frauen. Wie viele es ganz genau sind, kann Roni Hammermann  nicht sagen. „Wir haben kein offizielles Büro, sondern arbeiten vor allem über E-Mails und private Treffen“, sagt sie. Jede Woche beobachten israelische Frauengruppen von Machsom Watch entweder morgens früh oder nachmittags ausgewählte Checkpoints im Norden und Süden des Landes. Sie machen Fotos vor Ort, von Menschenrechtsverletzungen, sie notieren Vorfälle und sammeln die Informationen, um sie zu publizieren.

593 KOntrollpunkte und Barrieren

Israel verfügt derzeit über 80 fester Kontrollpunkte, der Großteil untersteht dem Verteidigungsministerium und wird von SoldatInnen und jeweils einem_r diensthabenden_r OffizierIn verantwortet. Insgesamt verteilen sich 593 Kontrollpunkte unterschiedlichster Art sowie Straßensperren, sogenannte Roadblocks“, auf palästinensischem Land. Seit einigen Jahren aber gibt es die Tendenz des „Outsourcing“: Die Checkpoints werden privatisiert, die Kontrolle führen Sicherheitsfirmen aus. Für PalästinenserInnen hat sich damit die Situation dramatisch verschlechtert. Die privaten Kontrollpunkte gelten als verroht, die Demütigungen bei den Kontrollen seien extremer als bei den militärisch geführten, kritisieren istaelische und internationale MenschenrechtsbeobachterInnen.  Die sogenannten Private Guards seien ungebildet und spielten sich wie die Sheriffs gegenüber den PalästinenserInnen auf, heisst es.

RESPEKT VOR DEM ALTER

Dies beobachten auch die Frauen von Machsom Watch, die sich vor allem dort positionieren, wo viele Menschen sind. Ihre Notizen und Fotos zeigen Momente von Menschenrechtsverletzungen durch Video-Kameras und ihren Stift auf – und sie verhandeln aktiv mit den SoldatInnen. Denn oftmals werden sie ZeugInnen davon, dass PalästinenserInnen die Kontrollpunkte nicht passieren dürfen. Ohne Grund, aus einer Laune heraus, begleitet von Aggressionen und Willkür. Sie bekommen mit, wie Menschen gedemütigt werden von SoldatInnen, denen der Pubertätsflaum manchmal noch auf der Oberlippe steht. Dann ist der Zeitpunkt für die Israelinnen gekommen, um einzugreifen. „Unser Vorteil ist, dass wir mit den Soldaten auf Hebräisch sprechen können. Wir sind Israelinnen und genießen dadurch eine Sonderposition, die internationale BeobachterInnen nicht haben“, so Roni Hammermann. Bei den Gesprächen mit den SoldatInnen helfe ihnen auch ihr Alter, sagt die Machsom-Watch-Mitgründerin. Alle Frauen sind über 50 Jahre alt, ein Großteil von ihnen sogar über 65. Das verschaffe ihnen zumindest anfänglich Respekt.

Über die Grüne LInie

Jede Frauengruppe veröffentlicht regelmäßig ihre Berichte auf der Webseite von Machsom Watch. Der israelische Staat hat seit Jahrzehnten Checkpoints installiert, die Palästinenser täglich passieren müssen. Auf dem Weg zur Arbeit, in die Universität, zu Familie und Freunden oder in die Gemeinde – ohne Checkpoint, ohne Identitätskarte und die schriftliche beantragte Erlaubnis von israelischer Seite geht es nicht weiter. Die rund 80 Kontrollpunkte seien nach internationalem Recht illegal auf palästinensischem Land gebaut, sagt Roni. Hinzu kommen zahlreiche sogenannte flying und partial Checkpoints, also fliegende und teilweise installierte, die in Sondersituationen ad-hoc errichtet werden und manchmal für tausende von Menschen ein großes Hindernis darstellen. Nur acht von ihnen befinden sich innerhalb der sogenannten Grünen Linie, der Waffenstillstandslinie von 1948. Machsom Watch informiert darüber auf seiner Webseite, bei Rundgängen und in Publikationen.

Öffentlichkeitsarbeit leisten

Am Anfang war es nur eine Handvoll Frauen, die sich Machsom Watch anschloss. Aber schon 2004 konnte die kleine Organisation sich offiziell registrieren lassen und damit auch Spendengelder rekrutieren. Diese sichern die laufenden Kosten für Machsom Watch. Die meisten Gelder werden für den Transport der Frauen an die Checkpoints benötigt, die oft weit weg von den Lebensmittelpunkten der Mitglieder liegen. Auch die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit wird zunehmend kostspieliger. Denn natürlich möchte die Organisation ihr Wissen über die israelische Besatzung, die Informationen über die Checkpoint-Lage, verbreiten. In den letzten Jahren hat diese Arbeit zugenommen, weil „uns klargeworden ist, dass wir die israelische Gesellschaft wirklich aufklären müssen“, sagt Roni Hammermann.

Filme, Touren, Publikationen


Machsom Watch hat einen Film produziert über die missliche Lage der Bauern im Jordantal, Titel :“The fading valley“. Bald soll eine Studie zu landwirtschaftlichen Toren bei Qualkilia im Norden der Westbank herausgebracht werden, um damit für die Öffentlichkeit „den systematischen Landraub Israels zu verdeutlichen“. Die Organisation hat einen Imagefilm mit dem Namen „The gate keepers“ über sich selbst produziert. Einige Frauen dokumentieren regelmäßig Gerichtsverhandlungen in den Militärgerichten, in denen häufig Jugendliche ohne rechtmäßige Anklage und ohne einen Anwalt oder eine Anwältin sitzen. PalästinenserInnen, die keine Passierscheine bekommen und auf der Schwarzen Liste Israels stehen, können sich ebenfalls an die Frauen wenden. Es gelingt nicht immer, die Namen dort zu entfernen. Aber so manches Mal hat es schon geklappt.

Wir können überall stehen

Die Frauen legen jetzt mehr Gewicht auf Führungen in englischer und hebräischer Sprache, sie gehen in vorbereitende Militärcamps für israelische Schüler, die den Armeedienst noch vor sich haben oder sprechen in Schulen und Akademien über ihre Arbeit.  Roni Hammermann selbst steht einmal pro Woche am Qualandia-Checkpoint, einem der größten Kontrollpunkte auf Jerusalem-Seite, der von und nach Ramallah führt. Dieser Checkpoint sei besonders grausam, findet sie. Denn dort müssen sich die wartenden Menschen in Käfig artige Schlangen einreihen und oft stundenlange Wartezeiten auf sich nehmen. „Häufig wissen die jungen SoldatInnen in Qualandia noch nicht einmal, wo sie da genau sind, ob Westbank oder Jerusalem – eine absurde Situation“, findet Roni Hammermann.

Die Luft ist dünn

Die Gespräche mit den SoldatInnen enden nicht immer gut für die engagierten Frauen. Einige wurden schon verhaftet, rüde angefasst oder das Militär versuchte, sie gar ganz zu verjagen. „Aber wir können dort überall stehen. Niemand kann uns befehlen, dass wir weggehen sollen“, ist Roni Hammermann überzeugt. In Zeiten von immer restriktiver werdenden Gesetzen gegen israelische AktivistInnen und linke JournalistInnen stellt Machsom Watch eine absolute Ausnahme dar. Wer in Israel die Besatzung als solche benennt und kritisiert, für den wird die Luft deutlich dünner. Roni Hammermann weiß das und es zermürbt sie. Ihre Tochter lebt in Mainz. „Gottseidank, damit entkommt sie der israelischen Gehirnwäsche“, sagt die Mutter Roni Hammermann. Ihren Sohn ist sie dabei zu überreden, Israel ebenfalls zu verlassen.

Kritik ist Wichtig

Ronis Prognose für die Zukunft sieht düster aus: Sollte die israelische Gesellschaft sich nicht von ihrer rassistischen Haltung und ihrem Apartheidsgebaren gegenüber Andersdenkenden und ihren palästinensischen MitbürgerInnen abwenden, drohe dem Land ein absolutes Chaos, so ihre Prophezeiung. Dies würde nur noch durch einen totalen Krieg in der Region getoppt werden – ein „Unglücksfall“, wie Roni Hammermann es ausdrückt. Zum Beispiel wenn die arabischen Nachbarn Israel angreifen würden. Sie hofft das nicht. Aber woran glaubt sie noch? „Ich befürworte die internationale Boykottbewegung gegen uns und ich finde, der Druck von außen auf Israel muss zunehmen. Auch ihr Deutsche müsst mehr aufwachen! Kritik an Israel ist kein Antisemitismus, sondern notwendig – diese Behauptung ist Quatsch!“

Deutliche Worte einer Frau, die über sich sagt, dass sie nicht mehr weiß, ob sie in dieser Situation noch psychisch gesund sein kann. Wie antwortete Roni Hammermann zu Beginn unseres Gesprächs auf meine Frage, seit wann Machsom Watch aktiv sei? „Wir halten seit 2001 durch.“

Informationen: Machsom Watch und UN OCHA im Internet
Die israelische Organisation Machsom Watch begeht am Sonntag, 29.08.2021, ihr 20-jähriges Bestehen mit einer digitalen Ausstellung, für die man sich hier registrieren kann. Website: machsomwatch.org
Das Interview habe ich 2016 mit Roni Hammermann in Jerusalem geführt. Ich habe es minimal angepasst. Aktuelle Karten und Zahlen zu den palästinensischen Gebieten veröffentlicht das Büro der Vereinten Nationen UN Ocha auf seiner Homepage: United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs – occupied Palestinian territory | Home Page

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