Umkleidekabine mit Hocker. Foto: iStock

Das warme Licht

Die aktuelle Krise in Palästina und Israel betrifft die Menschen am meisten, die dort leben. Sie berührt aber auch diejenigen, die Israel und Palästina gut kennen und schätzen. Können wir in einer Krise den Lichtschalter auf „warmes Licht“ einstellen? Gerade jetzt wäre das wünschenswert.

Eine Reflektion von Liva Haensel
Manchmal ist es gut, etwas naiv zu sein. Naivität erhellt das Leben, aber in einem weichen Licht. Naivität heißt, dass man nicht alles realistisch und nüchtern betrachtet. So, wie man sich sonst nur in einer grell erleuchteten Kleiderkabine eines deutschen Kaufhauses nüchtern im Spiegel anguckt, wenn man die neueste Bademode testet. Bademode anprobieren bei grellem Licht, das ist das Gegenteil von Rausch.
Das ist ein gnadenloser Zustand, so wie Gott einen eben schuf: Nackt, mit Falten, Hängebacken, Cellulitis, Knochen, hervortretenden Adern, mit Muskeln und Fettzellen an den falschen Stellen.

Mit Naivität wird das Licht in der Kabine weicher, stimmungsvoller, fließender. Das Schöne und Gute tritt hervor, und das beruhigt.

Eine Zeitlang, in der ich als Studentin in Berlin lebte, gewöhnte ich mir an, nur noch in wenige Klamottenläden zu gehen, deren Kabinenlicht man dimmen konnte. Wenn ich den Lichtschalter auf „warm“ anklickte, nahm ich mich anders wahr. Ich war noch dieselbe Person, aber ich sah jetzt anders aus. Die meisten Tops und Bikinis saßen dann und sie standen mir gut. Das warme, weiche Licht vor dem Spiegel schmeichelte mir. Meine von mir streng wahrgenommenen Schwachstellen traten in den Hintergrund. Ich wurde gnädiger mit mir.

Obwohl ich nicht viel Geld besaß im Studium, kaufte ich bei diesen Gelegenheiten meistens die Sachen, die ich bei diesem Licht anprobiert hatte. Später, als ich sie zuhause noch einmal testete, merkte ich, dass ich mit diesen Kleidungsstücken den guten Moment in der Kabine verband; denjenigen, in dem sich durch das Licht mein Spiegelbild mit meinem Selbst ausgesöhnt hatte. Es waren die Stücke, die ich später am liebsten und sehr oft trug.

Etwas Versöhnliches

Jetzt gerade merke ich, dass ich diesen Lichtschalter mit seinen unterschiedlichen Dimm-Stufen vermisse. Das weiche, warme Licht, das es gut meint mit uns Menschen. Dass etwas Versöhnliches hat, vielleicht Naives.
Ich kenne den Nahostkonflikt seit ich 19 Jahre alt bin. Das erste Mal fuhr ich mit meiner Familie nach Israel und Ägypten, da war ich 15. Damals konnten wir einfach nach Gaza reinfahren mit unserem israelischen Taxi, weil der Gazastreifen damals auch intern noch von Israel besetzt war.

Unsere zwei Tage in Jerusalem faszinierten mich damals so sehr, dass ich entschloss: In dieser Stadt möchte ich einmal für längere Zeit leben. Mein Interesse für die deutsch-jüdische Geschichte hatte sich schon ein paar Jahre vorher entwickelt. Wie viele andere junge Menschen in Deutschland wollte ich den Holocaust begreifen, das Dritte Reich, die Unglaublichkeit des Massenmordes der Nationalsozialist*innen. Wie war es soweit gekommen? Warum war das passiert? Bis heute beschäftigt mich diese Frage sehr. Ich denke, das ist gut so. Sie treibt mich an und lässt mich nie ganz ruhen.

Die Luft der Altstadt

Im Freiwilligendienst nach dem Abitur lebte ich in Jerusalems Altstadt, wo ich in einem Hospiz tätig war. Naiv war ich davon ausgegangen, dass es sich um Israels Staatsgebiet handelte. Erst nach und nach lernte ich, dass Ost-Jerusalem – so wie die Westbank, der Gazastreifen und die Golanhöhen – 1967 von Israel besetzt worden waren. In Ost-Jerusalem lebten Palästinenser*innen in dem muslimischen und christlichen Viertel, während in dem armenischen vornehmlich Armenier*innen und in dem jüdischen Viertel Jüdinnen und Juden lebten.
Mich faszinierte diese Vielfalt ungemein. Noch heute erinnere ich mich an die ersten Eindrücke nachdem ich in Jerusalem mit meinem Rucksack angekommen war: Ich sitze am Damaskustor auf den Stufen und schaue auf den Eingang in die Altstadt und die vielen Menschen. Orthodoxe eilen Richtung Klagemauer, arabische Frauen in traditionell bestickten Gewändern verkaufen Thymian auf Decken, die sie vor sich ausgebreitet haben. Zahlreiche Händler*innen ringen mit Tourist*innen um die besten Schekelpreise.

45 Minuten später in Jerusalem

Ich schließe die Augen und atme die Luft des Suks, des Basars, mit seinen Gewürzen, seinem Parfüm, der Minze, seinem Kaffee mit Kardamom und den von Öl getränkten Falafel Bällchen ein.
Ein Atemzug, tausend Gerüche. Die Altstadt brummt wie ein surrender Bienenkorb. In diesem Moment fühlte ich mich vollkommen zuhause.
Dieses Gefühl des Zuhause Seins hatte ich viele Male immer und immer wieder in Jerusalem. Meine Zeit als Volontärin hatte mich geprägt. Ich kehrte immer wieder in diese Stadt zurück und lebte dort für Monate oderJahre als Journalistin, Touristin, Menschenrechtsbeobachterin, Beraterin, Reisende und Heimkehrende. Sobald ich am Flughafen in Tel Aviv ankam, bestieg ich ein Sherut, ein israelisches Sammeltaxi, und war 45 Minuten später dort. Heimat.

Die Rückgabe wurde nicht erfüllt

Manchmal verloren wir uns etwas aus den Augen, die Stadt und ich. Dann schaffte ich es aus verschiedenen Gründen nicht, Jerusalem zu besuchen und ihren Glanz wahrzunehmen, weil mir mein alltägliches Leben dazwischenkam. Aber das machte nichts. Jerusalem war da und meine Liebe zu der Stadt blieb. Ich nahm Veränderungen wahr, die es früher nicht gegeben hatte: Den Checkpoint am Damaskus-Tor beispielsweise gab es früher nicht. Die Sicht auf die sich durch die engen Altstadtgassen schlängelnden Menschen war vollkommen freigewesen.

Mauerbau und Osloer Abkommen


Durch den Mauerbau Israels 2003 konnten sich viele Israelis und Palästinenser*innen nicht mehr in Jerusalem treffen und zusammen für Frieden arbeiten, so wie vorher. Die Freude über die Friedensverhandlungen und die Osloer Verträge ebbten Ende der 1990iger und zu Beginn des neuen Jahrtausends immer mehr ab. Die Palästinenser*innen hatten eine Rückgabe ihrer Gebiete erhofft und dass ihnen dies zumindest einen kleinen, eigenen Staat einbringen würde.

Doch die abgemachten fünf Jahre der Rückgabe – festgelegt in Oslo unter Aussparung der Antworten auf die Kernfragen Rückkehrrecht der Flüchtlinge, Status von Jerusalem, Grenzen und Regierungsstrukturen, Wasserressourcen – wurden nicht erfüllt. Verhandlungen und Friedensinitiativen endeten in Sackgassen Derweil beteten Jerusalems Menschen an der Klagemauer, in der Grabeskirche und im Felsendom weiter.

Eine tiefe Depression

Bis heute ist ein palästinensischer Staat nicht in Sicht und keine Hauptstadt für Palästinenser*innen. Die Westbank und Ost-Jerusalem sind nach wie vor völkerrechtswidrig von Israel besetzt. Dort leben mittlerweile 700.000 jüdische Siedler*iinnen. Die Zahl der Outposts – Mini-Siedlungen – die sich später in ganze Siedlungsketten einfügen – nehmen seit Jahren laut UN OCHA und der israelischen Organisation Peace Now zu. Einige Palästinenser*innen und Israelis können sich einen gemeinsamen Staat vorstellen, der zweifelsohne klare Regelungen bedingen müsste. Die Mantra artige Wiederholung der Zwei-Staatenlösung durch Politiker*innen hat bisher keine Ergebnisse gezeigt, die es beiden Völkern erlaubt, dort friedlich ohne Besatzung leben zu können.

Eine tiefe Depression, unterbrochen von andauernden Schockauslösern bedingt durch die sich stetig ändernde Nachrichtenlage und die immer höher kletternde Zahl von Todesopfern, ist eingetreten. Eine totale Unsicherheit hat sich wie Nebel ausgebreitet. Er umhüllt die Menschen in Israel und Palästina in ein graues, gefährliches Nichts.

We are so tired

„We are at the very end. Israel’s habitants want revenge now for the kidnapping and murder of the Hamas and I fear that the government will do so”, schreibt mir ein israelischer Freund über Facebook. Er hat jahrzehntelang in einer israelisch-palästinensischen Organisation für Frieden gearbeitet.
„We are so tired. We feel totally alone“, schreibt mir ein palästinensischer Freund, der sich jahrelang mit jüdischen Siedler*innen aus seiner Nachbarschaft zum gemeinsamen Essen traf.

Ich lege mein Handy weg und muss schlucken.

Ich suche den Lichtschalter im Dunkel. Ich möchte das Licht auf „Warm“ stellen, auf schön und fließend. Ich möchte die Falten und Wunden sehen, aber in einem guten Licht. Tastend bewege ich meine Finger nun vorwärts. Suchend.

Wo ist er?


Ich möchte meine Naivität wahren. Meinen Glauben daran, dass wir uns als Menschen immer wieder neu begegnen können – zusammen mit unseren Schmerzen, die sichtbar sind, die uns miteinander verbinden.

Ich vermisse das warme Licht.

Da ist er. Ich kann ihn fühlen. Es war dunkel und ich habe ihn nicht gesehen.
Ich streiche vorsichtig über seine kleine Erhebung. Der Lichtschalter ist noch da.

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Am Tisch der Macht

Das MARKK – Museum am Rothenbaum. Kulturen und Künste der Welt in Hamburg zeigt die Ausstellungen „Hey Hamburg, kennst Du Duala Manga Bell?“ sowie „Benin. Geraubte Geschichte“. Beide thematisieren Kolonialisierung und Rassismus. Und lassen dennoch viele Fragen unbeantwortet.

Am 9. Mai 1914 landet ein Telegramm in Berlin, das an den Kolonialstaatssekretär Wilhelm Heinrich Solf höchstpersönlich adressiert ist. Sein Text lautet: „Kolonialstaatssekretär Solf, die Aktionen von Rudolf Duala Manga Bell und Adolf Ngoso Din sind viel weitreichender als erwartet. Wir wurden informiert, dass sie beabsichtigen, die Duala zur Revolte gegen uns aufzuhetzen. Sie haben vor, die Franzosen und Briten um Hilfe zu bitten. Handeln Sie schnell! Handeln Sie jetzt!
Anonymus.“
Drei Monate später, am 8. August 1914, sind Rudolf Duala Manga Bell und Adolf Ngoso Din tot. Erhängt durch den Strick, im Auftrag der deutschen Kolonialherren in Kamerun.

Mutiger Stratege

Das Kapitel ist eines von vielen in der Kolonialgeschichte des damaligen Deutschen Reiches. Und dennoch ein besonderes. Denn der Widerstand der Duala in Kamerun, die ihr König Rudolf Manga Bell gegen die deutschen Besatzungsmächte vor dem 1. Weltkrieg anführt, nutzte alle Instrumente moderner Kommunikation, um auf das Unrecht der Landnahme durch die Deutschen aufmerksam zu machen. Rudolf Manga Bell, der fließend Deutsch sprach und bestens vernetzt war in Politik und Medien, machte weitreichend auf das seinem Volk angetane Unrecht aufmerksam. Er nutze alle juristischen Möglichkeiten – u.a. Petitionen und die Verteidigung durch die Anwälte Rosa Luxemburgs. Er erzielte Teilerfolge und die Deutschen bekamen Angst vor dem Mut dieses smarten Strategen, mit dem sie nicht gerechnet hatten. Und musste schließlich doch sterben.

Kunstinstallation von Laurel Chokoago

Teilhabe und Macht

In Form der Graphic Novel „Die Vergangenheit ist ein Weg“ des nigerianischen Künstlers Karo Akpokiere können Museumsbesucher*innen des MARKK jetzt genau diesem Weg von Rudolf Duala Manga Bell folgen. Diese ist experimentell gestaltet: Archivbestände, Fotos, Leihgaben sowie Kunstinstallationen junger afrodeutscher Studierender setzen einzelne Mosaiksteine des Weges in die koloniale Vergangenheit Deutsch-Kameruns zusammen. Sie bringen Licht in das historische Dunkel und zeigen die schmerzvollen Überschneidungen beider Länder, aber auch inspirierende Zukunftsideen. Bemerkenswert ist zum Beispiel der Stuhl aus fließendem Hartplastik mit dem durchgestrichenem Titel „A seat at the table“ der kongolesisch-kamerunischen Künstlerin Laurel Chokoago. Sie symbolisiert damit die Sehnsucht des ausgegrenzten Menschen, am Tisch der Machthaber ebenfalls platznehmen zu können. Der Stuhl als Ort für Teilhabe und Macht; beides Begriffe, die der in den Kolonien lebenden Bevölkerung verwehrt wurde und speziell auch heute „mixed persons“ – als die sich Chokoago selbst bezeichnet – immer noch betrifft.

Restitution als Schritt nach vorn

Im 1. Stockwerk des imposanten MARKK, das bis vor Kurzem noch „Museum für Völkerkunde“ hieß, ist derzeit noch bis Jahresende eine beeindruckende Sammlung geraubter Kunst aus dem damaligen Benin, einem Teil des heutigen Nigeria, zu sehen. Die Exponate, die auf teils unbekanntem Wege nach Hamburg gelangten, enthalten kostbare Büsten, Köpfe, Schnitzarbeiten und Tierskulpturen der damaligen Königspaläste. Alle Stücke wurden während der britischen Kolonialzeit geraubt, veräußert und illegal in die Hände deutscher Ethnologen übergeben. Schwarz-Weiß-Fotografien zeigen teils skurille Szenen von überfüllten Marktständen und sich türmenden Exponaten in Museums-Archiven mit europäischen Vertretern. Die Stadt Hamburg wird sie ab Januar 2021 an Nigeria zurückgeben und ist dazu mit der nigerianischen Regierung und zahlreichen Partnern im Gespräch. Die Restitutionsdebatte ist damit auch in Hamburg, der reichen und großzügigen Hansestadt an der Elbe, angekommen. Denn gerade hier entstand durch die Reedereien und Kaufleute ein reges, lukratives Geschäft mit den neuen Kolonien, die den „Platz an der Sonne“ – so das damalige Motto – für das Deutsche Reich sichern sollten.

Benin-Büsten auf einem Marktstand mit einem jungen Händler, vermutlich 1902. Foto: Liva Haensel/MARKK

Rassismus in allen Wissenschaften

Die Umbenennung des ehemaligen Völkerkundemuseums durch die neue Leiterin, das ein Jahrhundert lang vor allem Raubkunst datierte und ausstellte aber – wie so viele andere Museen – keinen Kontext zu ihrer Herkunftskultur und menschlichen Schicksalen herstellte, ist ein wichtiger Schritt. Woher stammen die Exponate? Wie gelangten sie nach Deutschland und wie kommen sie rechtmäßig zurück in die Hände ihrer Urheber*innen? Diese zentralen Fragen stellen nicht nur die Ethnologie auf den Kopf, sondern jede wissenschaftliche Disziplin heutzutage. Denn rassistische Denk- und Handlungsmuster ziehen sich bis heute durch alle Geistes- und Naturwissenschaften. Das Humboldt-Forum im wiederaufgebauten Berliner Schloss ist noch am Anfang dieser Debatte. Im MARKK machen jetzt Zusätze zu Exponaten weiterer Ausstellungen darauf aufmerksam, dass Herkunft und Ursprung vieler Objekte noch unbekannt sind und es gilt, diese Lücken jetzt zu füllen. Vielleicht ist es auch eine Idee, Menschen migrantischer Herkunft sowie aus Ländern ehemaliger Kolonien zu fragen, wie sie dies beurteilen, wie sie fühlen und was sie sich wünschen. Vielleicht ist es an uns weißen Deutschen, sie nun zu fragen, ob wir an ihrem Tisch Platz nehmen dürfen.

Information
Die Rückgabe der benin-Sammlung des MARKK wird seit April 2021 schrittweise umgesetzt. Sie wird an benin-City in Nigeria übergeben. Das KUnstzentrum befASST Sich mit dem Verlust seines kuturellen Erbes.
Die digitale Wissens-Plattform „Digital benin“ dokumentiert jedes Exponat und erstellt zudem neue Forschungserkenntnisse. Sie geht Ende 2022 online: www.digitalbenin.org

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„WIR HALTEN DURCH“

Die preisgekrönte, israelische Frauenorganisation Machsom Watch beobachtet seit 20 Jahren die Lage an Checkpoints zwischen Israel und der Westbank. Dort unterstützt sie aktiv palästinensische ZivilistInnen. Mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit leisten die Mitglieder Widerstand gegen die Besatzung, obwohl sie selbst israelische Staatsbürgerinnen sind. Und riskieren damit viel.

Jerusalem – „Wenn wir könnten, mein Mann und ich, dann wir würden Israel am liebsten verlassen. Aber wir sind jetzt über 70, wir sind zu alt.“ Roni Hammermann sitzt auf einem beigen Ledersofa, beugt sich kurz vor und schaut ihr Gegenüber dann intensiv an. Sie denkt kurz nach, dann sagt sie. „Ich würde sehr gerne in Italien leben. Aber dort habe ich keine Freunde, keine Unterstützung. Also bleiben wir in Israel.“ Sie schweigt.
Wir sitzen in dem Wohnzimmer der Hammermanns in Nahlot, einem Stadtteil in West-Jerusalem.

Desillusioniert

Ich bin hierher gekommen, um mich mit einer der Gründerinnen von Machsom Watch über ihre Arbeit zu unterhalten. Die israelische Organisation wurde 2001 von Roni Hammermann mitgegründet. Jetzt wird sie 20 Jahre alt und begeht dies mit einer virtuellen Ausstellung im August 2021. Die Organisation besteht nur aus Frauen. Alle sind freiwillig aktiv, ohne Bezahlung, aber mit der Überzeugung im Kopf und im Herzen, dass die israelischen Kontrollpunkte in der Westbank abgeschafft werden müssen. So wie die israelische Besatzung insgesamt. Roni Hammermann ist ihre Vorsitzende. Sie hat den Aachener Friedenspreis verliehen bekommen und ist jetzt 76 Jahre alt. Und sie ist verzweifelt. Denn die israelische Menschenrechtsaktivisten-Szene ist auf ein Häuflein zusammengeschrumpft in den letzten Jahren. Und die Politik Israels wird immer rechter: „Hier ist soviel Hass in diesem Land, soviel Wut und Rassismus, das ist nur schwer auszuhalten“, sagt Roni.

Von Wien nach Jerusalem

Die studierte Slawistin war nie eine überzeugte Zionistin, obgleich der neugeschaffene jüdische Staat ihren Eltern 1930 zu einer sicheren Insel wurde. Beide stammten aus Österreich-Ungarn und mussten als vor den Nationalsozialisten verfolgte Juden fliehen. Roni wurde 1940 vor der Staatsgründung Israels im damaligen Palästina geboren, verbrachte aber ihre Schul-und Studienzeit in Wien. Mit 25 Jahren zog sie nach Israel und blieb. Nicht, weil sie sich unter Juden am wohlsten fühlte, sagt sie. Sondern weil sie an der Hebräischen Universität Russisch unterrichteten konnte und später dort Bibliotheksleiterin wurde.

Schwanger am Checkpoint

Die Mutter von zwei erwachsenen Kindern war immer in der Menschenrechts-Szene aktiv, erzählt sie. Aber 2001 gab es eine entscheidende Wende in ihrem Leben. Aufgerüttelt durch einen Artikel in der linksliberalen Zeitung Haaretz, in der über palästinensische Frauen berichtet wurde, die ihre Babys an einem Checkpoint bekommen mussten, weil ihnen israelische Soldaten den Zugang zu den Krankenhäusern auf der anderen Seite verweigerten, begann Roni Hammermann mit einigen anderen Frauen darüber zu diskutieren. Werdende Mütter, die ihre Kinder auf offener Straße gebären mussten und das unter Lebensgefahr, das war ungeheuerlich, erinnert sie sich: „Wir sagten uns, kommt, da müssen wir hingehen, wir müssen uns die Situation direkt vor Ort an so einem Checkpoint ansehen.“

Die Situation verschlechtert sich

Roni Hammermann am Checkpoint in Qualandia 2009. Foto: Tamar Fleishman

Aus dem Hingehen und dem sich Vor-Ort-Überzeugen wurde eine der meist geachteten Nichtregierungsorganisationen Israels. Mittlerweile zählt die Organisation mit dem hebräischen Namen Machsom Watch (Checkpoint Watch) mehr als 400 jüdische Frauen. Wie viele es ganz genau sind, kann Roni Hammermann  nicht sagen. „Wir haben kein offizielles Büro, sondern arbeiten vor allem über E-Mails und private Treffen“, sagt sie. Jede Woche beobachten israelische Frauengruppen von Machsom Watch entweder morgens früh oder nachmittags ausgewählte Checkpoints im Norden und Süden des Landes. Sie machen Fotos vor Ort, von Menschenrechtsverletzungen, sie notieren Vorfälle und sammeln die Informationen, um sie zu publizieren.

593 KOntrollpunkte und Barrieren

Israel verfügt derzeit über 80 fester Kontrollpunkte, der Großteil untersteht dem Verteidigungsministerium und wird von SoldatInnen und jeweils einem_r diensthabenden_r OffizierIn verantwortet. Insgesamt verteilen sich 593 Kontrollpunkte unterschiedlichster Art sowie Straßensperren, sogenannte Roadblocks“, auf palästinensischem Land. Seit einigen Jahren aber gibt es die Tendenz des „Outsourcing“: Die Checkpoints werden privatisiert, die Kontrolle führen Sicherheitsfirmen aus. Für PalästinenserInnen hat sich damit die Situation dramatisch verschlechtert. Die privaten Kontrollpunkte gelten als verroht, die Demütigungen bei den Kontrollen seien extremer als bei den militärisch geführten, kritisieren istaelische und internationale MenschenrechtsbeobachterInnen.  Die sogenannten Private Guards seien ungebildet und spielten sich wie die Sheriffs gegenüber den PalästinenserInnen auf, heisst es.

RESPEKT VOR DEM ALTER

Dies beobachten auch die Frauen von Machsom Watch, die sich vor allem dort positionieren, wo viele Menschen sind. Ihre Notizen und Fotos zeigen Momente von Menschenrechtsverletzungen durch Video-Kameras und ihren Stift auf – und sie verhandeln aktiv mit den SoldatInnen. Denn oftmals werden sie ZeugInnen davon, dass PalästinenserInnen die Kontrollpunkte nicht passieren dürfen. Ohne Grund, aus einer Laune heraus, begleitet von Aggressionen und Willkür. Sie bekommen mit, wie Menschen gedemütigt werden von SoldatInnen, denen der Pubertätsflaum manchmal noch auf der Oberlippe steht. Dann ist der Zeitpunkt für die Israelinnen gekommen, um einzugreifen. „Unser Vorteil ist, dass wir mit den Soldaten auf Hebräisch sprechen können. Wir sind Israelinnen und genießen dadurch eine Sonderposition, die internationale BeobachterInnen nicht haben“, so Roni Hammermann. Bei den Gesprächen mit den SoldatInnen helfe ihnen auch ihr Alter, sagt die Machsom-Watch-Mitgründerin. Alle Frauen sind über 50 Jahre alt, ein Großteil von ihnen sogar über 65. Das verschaffe ihnen zumindest anfänglich Respekt.

Über die Grüne LInie

Jede Frauengruppe veröffentlicht regelmäßig ihre Berichte auf der Webseite von Machsom Watch. Der israelische Staat hat seit Jahrzehnten Checkpoints installiert, die Palästinenser täglich passieren müssen. Auf dem Weg zur Arbeit, in die Universität, zu Familie und Freunden oder in die Gemeinde – ohne Checkpoint, ohne Identitätskarte und die schriftliche beantragte Erlaubnis von israelischer Seite geht es nicht weiter. Die rund 80 Kontrollpunkte seien nach internationalem Recht illegal auf palästinensischem Land gebaut, sagt Roni. Hinzu kommen zahlreiche sogenannte flying und partial Checkpoints, also fliegende und teilweise installierte, die in Sondersituationen ad-hoc errichtet werden und manchmal für tausende von Menschen ein großes Hindernis darstellen. Nur acht von ihnen befinden sich innerhalb der sogenannten Grünen Linie, der Waffenstillstandslinie von 1948. Machsom Watch informiert darüber auf seiner Webseite, bei Rundgängen und in Publikationen.

Öffentlichkeitsarbeit leisten

Am Anfang war es nur eine Handvoll Frauen, die sich Machsom Watch anschloss. Aber schon 2004 konnte die kleine Organisation sich offiziell registrieren lassen und damit auch Spendengelder rekrutieren. Diese sichern die laufenden Kosten für Machsom Watch. Die meisten Gelder werden für den Transport der Frauen an die Checkpoints benötigt, die oft weit weg von den Lebensmittelpunkten der Mitglieder liegen. Auch die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit wird zunehmend kostspieliger. Denn natürlich möchte die Organisation ihr Wissen über die israelische Besatzung, die Informationen über die Checkpoint-Lage, verbreiten. In den letzten Jahren hat diese Arbeit zugenommen, weil „uns klargeworden ist, dass wir die israelische Gesellschaft wirklich aufklären müssen“, sagt Roni Hammermann.

Filme, Touren, Publikationen


Machsom Watch hat einen Film produziert über die missliche Lage der Bauern im Jordantal, Titel :“The fading valley“. Bald soll eine Studie zu landwirtschaftlichen Toren bei Qualkilia im Norden der Westbank herausgebracht werden, um damit für die Öffentlichkeit „den systematischen Landraub Israels zu verdeutlichen“. Die Organisation hat einen Imagefilm mit dem Namen „The gate keepers“ über sich selbst produziert. Einige Frauen dokumentieren regelmäßig Gerichtsverhandlungen in den Militärgerichten, in denen häufig Jugendliche ohne rechtmäßige Anklage und ohne einen Anwalt oder eine Anwältin sitzen. PalästinenserInnen, die keine Passierscheine bekommen und auf der Schwarzen Liste Israels stehen, können sich ebenfalls an die Frauen wenden. Es gelingt nicht immer, die Namen dort zu entfernen. Aber so manches Mal hat es schon geklappt.

Wir können überall stehen

Die Frauen legen jetzt mehr Gewicht auf Führungen in englischer und hebräischer Sprache, sie gehen in vorbereitende Militärcamps für israelische Schüler, die den Armeedienst noch vor sich haben oder sprechen in Schulen und Akademien über ihre Arbeit.  Roni Hammermann selbst steht einmal pro Woche am Qualandia-Checkpoint, einem der größten Kontrollpunkte auf Jerusalem-Seite, der von und nach Ramallah führt. Dieser Checkpoint sei besonders grausam, findet sie. Denn dort müssen sich die wartenden Menschen in Käfig artige Schlangen einreihen und oft stundenlange Wartezeiten auf sich nehmen. „Häufig wissen die jungen SoldatInnen in Qualandia noch nicht einmal, wo sie da genau sind, ob Westbank oder Jerusalem – eine absurde Situation“, findet Roni Hammermann.

Die Luft ist dünn

Die Gespräche mit den SoldatInnen enden nicht immer gut für die engagierten Frauen. Einige wurden schon verhaftet, rüde angefasst oder das Militär versuchte, sie gar ganz zu verjagen. „Aber wir können dort überall stehen. Niemand kann uns befehlen, dass wir weggehen sollen“, ist Roni Hammermann überzeugt. In Zeiten von immer restriktiver werdenden Gesetzen gegen israelische AktivistInnen und linke JournalistInnen stellt Machsom Watch eine absolute Ausnahme dar. Wer in Israel die Besatzung als solche benennt und kritisiert, für den wird die Luft deutlich dünner. Roni Hammermann weiß das und es zermürbt sie. Ihre Tochter lebt in Mainz. „Gottseidank, damit entkommt sie der israelischen Gehirnwäsche“, sagt die Mutter Roni Hammermann. Ihren Sohn ist sie dabei zu überreden, Israel ebenfalls zu verlassen.

Kritik ist Wichtig

Ronis Prognose für die Zukunft sieht düster aus: Sollte die israelische Gesellschaft sich nicht von ihrer rassistischen Haltung und ihrem Apartheidsgebaren gegenüber Andersdenkenden und ihren palästinensischen MitbürgerInnen abwenden, drohe dem Land ein absolutes Chaos, so ihre Prophezeiung. Dies würde nur noch durch einen totalen Krieg in der Region getoppt werden – ein „Unglücksfall“, wie Roni Hammermann es ausdrückt. Zum Beispiel wenn die arabischen Nachbarn Israel angreifen würden. Sie hofft das nicht. Aber woran glaubt sie noch? „Ich befürworte die internationale Boykottbewegung gegen uns und ich finde, der Druck von außen auf Israel muss zunehmen. Auch ihr Deutsche müsst mehr aufwachen! Kritik an Israel ist kein Antisemitismus, sondern notwendig – diese Behauptung ist Quatsch!“

Deutliche Worte einer Frau, die über sich sagt, dass sie nicht mehr weiß, ob sie in dieser Situation noch psychisch gesund sein kann. Wie antwortete Roni Hammermann zu Beginn unseres Gesprächs auf meine Frage, seit wann Machsom Watch aktiv sei? „Wir halten seit 2001 durch.“

Informationen: Machsom Watch und UN OCHA im Internet
Die israelische Organisation Machsom Watch begeht am Sonntag, 29.08.2021, ihr 20-jähriges Bestehen mit einer digitalen Ausstellung, für die man sich hier registrieren kann. Website: machsomwatch.org
Das Interview habe ich 2016 mit Roni Hammermann in Jerusalem geführt. Ich habe es minimal angepasst. Aktuelle Karten und Zahlen zu den palästinensischen Gebieten veröffentlicht das Büro der Vereinten Nationen UN Ocha auf seiner Homepage: United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs – occupied Palestinian territory | Home Page

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Liva Haensel im Podcast-Studio

Über Frauenbilder und Männerblicke

Warum ist es immer noch so schön, wenn Frauen sich vor der Linse ausziehen und Männer zugucken dürfen? Und: Was wäre, wenn wir diese Rollen einfach mal umdrehen oder ganz aufbrechen würden? Im April dieses Jahres war ich Gast im Podcast-Studio des Berliner Fotografen Boris Mehl. Boris macht Boudoirfotografie, das heißt, er fotografiert hauptsächlich Frauen in Dessous in sinnlicher Szenerie. In dem Podacst sprechen wir über Gleichberechtigung vor und hinter der Kamera und warum sich mehr Diversität in der Welt lohnt. Hört einfach selbst rein!

Boudoir Podcast – Interview mit Liva Haensel – Kommunikationsberaterin › Boudoirpodcast

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HIER und JETZT

Jeder Mensch hat eine Lebensgeschichte, die es wert ist, erzählt zu werden. Deshalb lohnt es sich, in die eigene Familienforschung einzutauchen. Denn sie gibt uns Antworten auf wichtige Fragen im Hier und Jetzt. So wie mir die Fluchtgeschichte meiner Mutter.

Ich erinnere mich nicht genau, wann ich anfing, Fragen zu stellen. Vermutlich schon früher als mir bewusst ist. Mit 20 Jahren war ich in der Krankenpflegeausbildung in Hamburg und dort hatte ich den ganzen Tag mit zumeist älteren Menschen zu tun. Wenn man auf Station ist und sie pflegt, kommt man ihnen nahe. Beim Bettmachen, Fiebermessen, Urinkatheterlegen, beim Füttern und der Medizingabe.

Das Gespräch

Das alles waren Tätigkeiten am Menschen oder – so nannten wir Pflegekräfte es damals -„am Bett“. Das Wichtigste aber, das waren die Gespräche. Die Fragen und das Zuhören. Es war eigentlich egal, ob man gerade die Haare einer Patientin kämmte oder ihren Rücken abseifte, während sie in der Badewanne saß, ob man als Krankenpflegeschülerin Teebeutel sortierte oder Venenwickel aufrollte – das Gespräch mit den Menschen dort, das war zentral.

Die Kostbarkeit einer Lebensgeschichte

Ich habe damals viele Geschichten gehört auf Station und später wurden es noch mehr. Als ich als Studentin in Berlin todkranke Menschen zuhause in ihren vier Wänden in ihrer letzten Lebensphase begleitete, berichteten einige gern von dem „Alten Berlin“. Mit dem „Alten Berlin“ war die Hauptstadt vor ihrer Zerstörung im Zweiten Weltkrieg durch die Bombenangriffe der Alliierten gemeint. „Es war wunderschön, kein Vergleich mit jetzt“, sagte eine Steglitzerin, die ich wegen ihres Diabetes zuhause betreute. Sie berichtete mir, wie der Potsdamer Platz ausgesehen hatte und das Haus Vaterland dort – ein prächtiges Gebäude mit zahlreichen Restaurants und Bühnen – und wie sie dort Kaffee trinken war und sich dafür mit einem feinen Kleid zurechtgemacht hatte. Es war so bildlich wie sie das erzählte, dass ich sie vor mir sah, wie sie die dort die Leipziger Straße entlangging, in ihrem schwingenden Kleid, ganz jung und lebenshungrig. Ich konnte sie einfach fragen, wie Berlin damals ausgesehen hatte und sich anfühlte, wie sie die Stadt jetzt sieht, was damals passiert war nach dem Krieg, eigentlich nach allem. Das ist ein großes Glück! Dass Menschen gerne erzählen – wenn man ihnen Fragen stellt – und dass es eigentlich keine langweiligen Geschichten in dieser Welt gibt.

Familiengeschichte im Brennglas

Die eigene Familiengeschichte ist ein Teil von uns. Sie kann uns Angst machen oder ganze Schätze nach oben holen, hinein ins Licht. Vielleicht auch beides. Die Frage „Was ist damals passiert?“ ist keine, die in zwei Sätzen beantwortet werden kann. Sie wird Mosaiksteinchen aufzeigen, kleine und größere. Einige blitzen und blinken, andere sind verstaubt, ja, kaum zu sehen. All das ist normal. Wer sich auf die Suche nach der Vergangenheit begibt, der findet sich an Weggabelungen wieder und manchmal auch Irrwegen. Denn Erinnerungen sind meistens oral überlieferte Erzählungen ohne Gewähr auf Vollständigkeit. Karten und Fotos können das Bild vervollständigen. Unsere Suche nach der eigenen Geschichte kann mühselig sein. Doch sie wird belohnt: mit Mosaiksteinchen, die ein neues Bild auch unseres eigenes Lebens ergeben. Des HIER und JETZT. Das ist eine wunderbare Erfahrung. Diese Steine pflastern und prägen unseren eigenen Lebensweg. Er führt direkt in unsere Zukunft. Vielleicht fangen wir an, unsere Familie besser zu verstehen – und dadurch uns selbst. Unsere eigene Familiengeschichte kann uns Kraftquelle sein für alles Kommende!

Kindheit im Zweiten Weltkrieg

Die Familiengeschichte meiner Mutter ist eine besondere. Weil es auch ein Teil meiner Geschichte ist, da meine Mutter uns Kinder natürlich geprägt hat. Gleichzeitig ist sie aber auch eine unter tausenden. Denn viele Kinder im Zweiten Weltkrieg haben es so oder so ähnlich erlebt. Aber ich bin mir sicher: Der Sommer an der Ostsee 1944 wie sie ihn erlebt hat, muss einzigartig, ja, herrlich gewesen sein!
Ich glaube, meine Mutter war viel draußen damals. Es war ein sehr heißer Sommer in Pommern an der Ostsee. Die Kinder tobten durch die Kiefernwälder und über die Dünen. Meine Mutter hatte kurze Kleider an, ein sechsjähriges Mädchen, der Stoff reichte ihr bis zu den Knien und sie trug geflochtene Zöpfe, die zu Affenschaukeln eingebunden waren. Auf Schwarz-Weiß-Fotos sehe ich einen fröhlichen, entschlossenen, kleinen Menschen, der selbstbewusst in die Kamera guckt. Mein Großvater hatte damals schon einen hochwertigen Fotoapparat, den er ausgiebig nutzte, um Fotos von seinen Kindern und seiner Frau zu machen. Urlaub in Ostpreußen, Strandkörbe und überall spielende, hüpfende Kinder im Sand. Ich habe diese Fotos im Original gesehen. Meine Großmutter hatte sie trotz der Flucht aus Königsberg retten können und später feinsäuberlich in Fotoalben eingeklebt, mit kurzen erklärenden Sätzen dazu. So, als wäre die Welt im Fotoalbum wenigstens ein bisschen in Ordnung geblieben.

Ein Foto vor dem Sturm

Es gibt ein Foto, auf dem meine Mutter mit ihren Geschwistern zu sehen ist: Peter, der ältere Bruder, die jüngere Schwester Gisela, die kleine Irmgard – genannt Irmi – die Mutter Lieselotte und ihre Eltern. Die Gruppe liegt entspannt im Sand. Sie wirkt völlig gelöst. „Opa, lach mal, forderten wir unseren Opa auf. Und dann lachte er und sein kugelrunder Bauch hüpfte dabei auf- und ab, was uns noch mehr Spaß machte“, erzählt meine Tante Gila heute. Später stellte ich fest, dass dieses Foto genau die Gruppe derjenigen Verwandten von mir abbildete, die knappe 1,5, Jahre später gemeinsam auf die Flucht gehen sollten. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, das sich das Leben in eine völlig andere Richtung drehen würde.

Die Ruhe vor dem Sturm.

Ein Berliner Waisenhaus

Mein Urgroßvater Willi Heinrici war Volksschullehrer und Berliner. Er war seit 1920 Leiter der Wadzeck-Anstalt, einer evangelischen Stiftung, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, sich um Waisenkinder zu kümmern. Die Stiftung hatte ihren Sitz in Berlin-Lichterfelde in der Limonenstraße. Etwa 120 Kinder im Alter von drei bis 18 Jahren lebten damals in der Wadzeck-Anstalt und gingen dort auch zur Schule. Als die Bombenangriffe 1943 in Berlin immer heftiger wurden, entschied die Leitung, dass die Kinder evakuiert werden sollten. Das Erholungsheim der Stiftung an der pommerschen Ostseeküste war eine große Villa mit mehreren Nebengebäuden. Mann und Maus zogen nun in den kleinen Ort Deep nahe Kolberg. Das Fischerdorf direkt an der Ostsee war durchzogen von vielen Dünen und einem Kiefernwald. Ein idealer Ort zum Spielen für Kinder.

Von Königsberg nach Deep

Meine Mutter lebte zu diesem Zeitpunkt noch in Königsberg. Die Berliner Familie Schultes war aufgrund der Tätigkeit des Vaters Dr. Werner Schultes 1938 von Berlin in die preußische Hauptstadt gezogen. Mein Opa war Arzt. Er wollte seine internistische Facharztausbildung an der Universitätsklinik in Könisgberg absolvieren und hatte dort noch gute Beziehungen aus der Zeit seiner Medizinstudiums. „Wir hatten eine große, schöne Wohnung in der Nähe der Wallanlagen“, erinnert sich meine Mutter. Die Kinder spielten im Innenhof mit den Nachbarn, rauften miteinander und vertrugen sich wieder. Meine Oma, Liselotte Schultes, war medizinisch-technische Assistentin und hatte ihre Ausbildung an der Berliner Charité gemacht. Sie hatte sich, wie ihr Mann, ganz der Medizin verschrieben und hätte es fast selbst studiert. Als die Angriffe auf Königsberg immer heftiger wurden, entschloss sich meine Oma 1944 auf Anraten ihres Mannes, der als Militärarzt und Offizier ein Lazarett in der Nähe der Front leitete und dadurch immer aktuelle Nachrichten parat hatte , Königsberg zu verlassen. Mit ihren vier Kindern im Alter von acht bis zwei Jahren verließ sie die liebgewonnene Stadt und zog vorübergehend zu ihren Eltern und deren Waisenkindern nach Deep. Dort, in dem kleinen Dorf, schien alles noch ruhig zu sein. Man könne „Pommern halten“, hieß es.

Die Ruhe vor dem Sturm

Mein Onkel Peter, 1936 geboren, war damals Grundschüler. Kurz vor seinem Tod im Jahr 1986 hatte er noch einen Bericht verfasst über die Zeit in Deep 1944, die er als sorglos und sehr frei empfunden haben muss. Er war bereits zwei Jahre in Königsberg zur Schule gegangen. In Deep gab es nur eine einfache Volksschule, deren Schulbank nun eine bunte Mischung jüngerer und älterer Kinder drückte – Einheimische und Flüchtlinge. Die Idylle der Wadzeck-Villa an der Ostsee war die Ruhe vor dem Sturm. Denn Nazi-Deutschland war kurz vor seinem endgültigen Untergang. Millionen Deutsche würden sich Wochen und Monate später auf die Flucht begeben, jetzt noch nichtsahnend, darunter auch die Familie Schultes gemeinsam mit den 120 Kindern der Wadzeck-Anstalt, dem Personal und ihrem Leiter Willi Heinrici.

Die Russen kommen

Onkel Peters Bericht endet im März 1945 mit den Worten: „Die Russen kommen nach Deep.“ Seine Schwester, die 6-jährige Marlise, meine Mutter, weiß noch, dass sie alle am 11. März um die Mittagszeit die Wadzeck-Anstalt fluchtartig verließen. Alle Kinder, das Personal, die Lehrer, mein Urgroßvater und seine Familie. Sie gingen zu Fuß los, meine Oma schob den Kinderwagen mit etwas Gepäck und der kleinen Irmi darin. „Wir hatten nichts mit, nur die eigenen Kleider, die wir am Leib trugen, auch meine Puppe oder irgend ein anderes Spielzeug musste ich zurücklassen“, sagt meine Mutter. Und so wurde aus einer ganz normalen, glücklichen Kindheit…

… eine Kindheit auf der Flucht.

Wie ging es weiter? Über die Geschichte meiner Familie auf der Flucht und nach 1945 werde ich hier in meinem Blog weiter berichten.

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Auf ein Neues!

Das Medien-Netzwerk „Deine Korrespondentin“ berichtet seit Mai 2015 über Frauen aus aller Welt. Die Journalistinnen sind absolute Profis. Jetzt brauchen sie Geld, um ihr Format weiter auszubauen. Ein Treffen im neuen Jahr mit den sympathischen High Potentials im Hamburger Stadtteil St. Pauli. 

Schummriges Licht, Cocktails mit blumigen Namen, gemütliche Postermöbel: Ein bisschen Wohnzimmer-Atmosphäre herrscht in der Kneipe „Möwe Sturzflug“ im Hamburger Stadtteil St. Pauli, als ich mich peu-á-peu vorbei an den vielen Leuten bis hin zu dem Tisch im hintersten Raum durchschlängele. Dort sitzen schon drei Frauen so um die Anfang Dreißig. Sie nippen an Gläsern mit Holunderblütensyrup, Rum und Minze-Blättern. In ihren Gesprächen dreht sich alles um Artikel, Redaktionen und Themen. Und im Laufe des Abends kommen immer mehr Journalistinnen hinzu. Als Pauline Tillmann den Raum betritt, sinkt der Geräuschpegel merklich, die Aufmerksamkeit ist ganz auf sie gerichtet. Viele der Frauen begrüßen sie freudig. Man kennt sich gut. Denn Pauline hat vor knapp drei Jahren das Online-Magazin und Medien-Startup „Deine Korrespondentin“ in Berlin gegründet. Die Geschäftsführerin und ihre Korrespondentinnen treffen sich heute Abend in Hamburg zum „Meet and Greet“ und sie haben auch Freunde und Fans eingeladen. Ich bin gekommen, um mehr zu erfahren. Denn nach fünf Jahren Abwesenheit aus Deutschland interessiere ich mich vor allem für neue, digitale Formate, für Diversität und Projektinnovationen in der deutschen Medienszene. Was also macht „Deine Korrespondentin“?

Frauen sichtbar machen

Pauline setzt sich und erzählt. „Die Idee von „Deine Korrespondentin“ ist, Frauen in der Öffentlichkeit durch eine bewusste Berichterstattung sichtbarer zu machen“, sagt sie. Studien zeigen auf, dass über Männer fünf Mal mehr als über Frauen berichtet werde . Dieses Ungleichgewicht habe sie immer gestört, so Pauline. Denn viele Aspekte weiblicher Lebenswelten tauchen so gar nicht auf und werden von Männern im Medienbereich dann nicht wahrgenommen. Als freie Auslandskorrespondentin für öffentlich-rechtliche Sender berichtete Pauline vier Jahre lang aus St. Petersburg. Die Buchautorin machte anschließend eine Recherche-Reise in die USA. Aus dem Silicon Valley nahm sie den Schwung mit nach Deutschland, Neues und Innovatives zu wagen, auch mal scheitern zu können, aber vor allem den Mut zu aufzubringen, ein neues Format zu starten.  Deswegen lautet das Motto von „Deine Korrespondentin“ auch: Hören wir auf, zu reden und fangen wir an, zu machen.

Einzigartig gut

Zehn Korrespondentinnen berichten seit 2015 u.a. aus Uganda, Israel, Frankreich, Chile und Brasilien über ganz unterschiedliche Frauen in Form von Features, Podcasts und Reportagen. Dabei fungieren die Frauen multimedial, sind gleichermaßen als Expertinnen ihrer Länder wie auch als Journalistinnen unterwegs. Und „Die besten Geschichten von Frauen aus der ganzen Welt“, wie es auf der Website heißt, sind einzigartig gut.
Mareike Enghusen beispielsweise, die Israel-Korrespondentin, hat zwei Schwestern in Ramallah porträtiert, die ihrer Machogesellschaft ein Schnippchen schlagen und ein erfolgreiches Modeunternehmen gegründet haben. Mareike schreibt auch für Brand Eins und andere renommierte Medien. „Gerade bin ich in Kairo, lerne weiter Arabisch und werde erstmal bleiben, weil es dort so spannend ist“, sagt sie.

Harte Wirklichkeit

Qualität, dieses Wort, wird von den Korrespondentinnen mit echtem, hochwertigem Inhalt gefüllt. Die Geschichten auf „Deine Korrespondentin“ schmecken wie ein Glas sehr guten Whiskeys. Aber das hat natürlich auch seinen Preis. Denn das „Medien-Labor, wie Pauline „Deine Korrespondentin“ gerne nennt, ist nur tragfähig, wenn LeserInnen bereit sind, für gute Inhalte zu bezahlen. In dieser Hinsicht kämpft das Magazin genauso wie konventionelle Medienhäuser auch mit der harten Wirklichkeit – Journalismus soll gut sein, aber am liebsten soll er nichts kosten. Deshalb setzt „Deine Korrespondentin“ auf Spenden und neue Medien-Kooperationen.

Monatlich unterstützen

Auf steady kann jede(r) das Magazin mit geringen Monats- oder Jahressummen schon ab 5 Euro unterstützen. Ein lohnenswertes Engagement, wie ich finde. Denn, mal ganz ehrlich:  Wo besser sonst als hier kann man die tollsten Geschichten von Frauen aus der ganzen Welt lesen, sehen und hören?

Update: „Deine Korrespondentin“ gibt es immer noch! Nach einigen Kampagnen im Netz in den vergangegen Jahren hat Pauline Tilmann es geschafft, sogar eine Journalistin mit an Bord zu nehmen, die über innovative Frauen in Deutschland schreibt. Die Plattform ist weiter auf finanzielle Hilfe angewiesen, um ihre Kosten zu decken. Informationen zu dem Netzwerk, den einzelnen Korrespondentinnen sowie Artikel und Podcast-Audios gibt es direkt auf der Seite „Deine Korrespondentin“.

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In Love. Forever

Wie es ist, eine besondere Freundin zu haben. Und sie dann plötzlich zu verlieren. Ein Text über ungewollte Abschiede und das, was bleibt.
Prolog

Der Tod ist seltsam.

Manchmal schleicht er sich von hinten an, greift seinem Objekt der Begierde um den Hals und drückt einfach zu. Oder er kommt über Nacht, gleitet sanft von den umliegenden Bäumen auf das Dach des Hauses, landet lautlos auf dem Fensterbrett und schmiegt sich dann in die Kissen des Menschen, den er begehrt aufzusuchen.

Er hat so viele Gesichter.

Der Tod kommt in Begleitung tödlicher Krankheiten. Er macht uns das Leben schwer. Reicht es nicht, er käme alleine? Oder er zöge sich wieder zurück?

Als ich Dich das erste Mal im Hausflur in der Gethsemanestraße traf, das war im Sommer 2008. Wir wohnten in Berlin-Prenzlauer Berg. Ich war gerade in das Hinterhaus eingezogen, Aufgang römisch drei, III. Du wohntest über mir, auf der anderen Seite im 4. Stock. Die Wohnung war noch kleiner als meine, aber gut geschnitten. Auf dem Weg mit dem abgeratzten Kokosteppich zu Dir nach oben stand eine riesige Wasserpflanze mit Ablegern, die Du sorgfältig feucht hielst. Ich lernte schnell: Diese Frau bewegt sich viel, Treppensteigen macht ihr gar nichts. Und sie mag Grünes. Sehr.

Neue Nachbarin

Du warst braungebrannt von der Berliner und Brandenburger Sonne und hattest blaue, strahlende Augen, die mich wach und angenehm musterten. Aber was mir am meisten auffiel, das war Deine natürliche Art als Du mit mir dort das erste Mal sprachst. Wir sagten „Hallo“ und stellten uns gegenseitig vor. Es war eigentlich unspektakulär, ein Kennenlernen unter neuen Nachbarinnen, aber ich erinnere mich, wie ich danach dachte: Was für eine symphatische, natürliche Frau.

Eine Freundin von mir hat mal zu Studienzeiten einen revolutionären Satz gesagt: Sie sei in jeden ihrer Freunde und Freundinnen auch irgendwie verliebt. Wir redeten anschließend darüber, dass Verliebtsein nicht unbedingt immer mit Sex zu tun haben muss. Und dass man seine Freunde leidenschaftlich lieben kann. Dieser Satz passte sosehr zu mir, dass er mich fortan begleitete.

Eine Hausgemeinschaft

Wann ich mich genau in Dich verliebt habe, weiß ich nicht mehr. Vielleicht war es an dem Nachmittag als ich von der Redaktion nach Hause kam. Ich war als freie Journalistin für eine Tageszeitung tätig. Als dort der Gürtel immer enger geschnallt werden musste, wurde ich wie andere junge RedakteurInnen unschön geschasst. Zack, das war’s. Mir war hundeelend. Leichenblass kam ich von der Redaktion aus Mitte nach Hause und habe intuitiv sofort bei Dir geklingelt. Du hast mich reingelassen, ohne viele Worte, und mir einfach zugehört. Ich saß an dem Küchentisch, an dem wir viele Jahre später immer noch saßen, und habe Dir erzählt, wie tief getroffen ich sei von dieser Kündigung. Dieses  – gänzlich frei von Vorurteilen –  von Dir Angenommen-Werden und So-Sein-Können wie man ist in diesem Moment, das war eine der ganz großen Eigenschaften von Dir.

Voller Bewunderung

Unsere Nachbarschaft entwickelte sich zu einer Haus-, ja fast Lebensgemeinschaft. Du warst immer da, die Konstante in meinem Leben. Wir aßen zusammen, bekochten uns, wir machten Tee, luden uns gegenseitig ein. Ich mochte Deine pragmatische, naturverbundene Art und bewunderte Deine Fachkenntnisse zu Stadtplanung, Yoga, Ernährung, Bewegung und allen möglichen Orten in Brandenburg, die Du so gut kanntest.

Wir machten viele Ausflüge am Wochenende und die Berliner Bäderbetriebe unsicher. Dank Dir habe ich viele Schwimmbäder von innen gesehen, von Ost bis West. Wir machten Witze über die Beine anderer und lachten dabei gleichzeitig über unseren eigenen Speck und erste Dellen.

Unser Freundschaftsweg

Du lerntest alle meine Freunde kennen. Wir redeten über Partner im Speziellen, Männer im Allgemeinen und unsere Freiheit. Letztere war extrem wichtig für uns beide, aber Du gingst noch einen Schritt weiter und löstest Dich aus alten Konventionen. Die Spannungen und Auseinandersetzungen mit Deiner Familie, Deine gut durchdachten Entscheidungen zu Deinem Berufsweg, Dein Burn-Out und die Konsequenzen daraus – das waren Stationen auf unserem Freundschaftsweg. Für Deinen Willen, nach Deinem Gefühl zu leben und ganz eng bei Dir zu sein, bewunderte ich Dich unendlich.

Ich war beschützt

Als mich mein Job ins Ausland trug und raus aus unserer Gemeinschaft, war das nie ein Bruch. Ich wusste, dass Du nicht so international mobil bist. Es war einfach nicht Dein Ding, um die Welt zu jetten und Leute zu besuchen. Verbunden blieben wir dennoch über die vielen Berlinbesuche und unser Fundament, das so gut und fruchtbar über die vielen Jahre gewachsen war. Es ist seltsam – immer in meinem Leben, wenn ein Mensch ging, kam ein neuer. Sie ersetzten sich nicht gegenseitig, dazu waren sie einfach zu einmalig. Aber es war so, als würde jemand immer dafür Sorge tragen, dass ich beschützt bin, mit guten Menschen an meiner Seite. Du warst einer davon.

Ein Glück

Im letzten Oktober habe ich Dich dann noch einmal gesehen. Wir tranken Aperol Spritz an der Spree und ließen Stunden lang die Beine und Seele baumeln am sowjetischen Ehrendenkmal im Treptower Park. Du hattest das an, was ich immer den „Berlin-Style“ nenne – T-Shirt, alte Jeans, Laufschuhe. Die Stadt ist laissez-faire, es passte mal wieder alles zusammen und Du ganz mittendrin. Wir verabschiedeten uns und ich schaute Dir nochmal kurz nach an der S-Bahn. Die Sonne schien im Herbstlaub und ließ Dein Gesicht kurz aufleuchten: Was für eine geniale, tolle Frau. Was für ein Glück, diese Freundin zu haben!

Bonnbesuch

Wir redeten am Telefon über einen möglichen Bonn-Besuch. Ich sah Dich gedanklich in meiner gemütlichen Küche mit den Dachschrägen sitzen, mit Deinem wachen Blick und Deinen klugen Bemerkungen.

Das alles ist irgendwie nun vorbei. Und doch auch nicht.

Denn ich habe die Aufgabe, zu verstehen, dass Du jetzt tot bist.

Du Liebe

Als die Nachricht davon per E-Mail kam, musste ich mich rasch auf das Sofa setzen, das Du auch noch kennst aus meiner alten Wohnung. Ich glaube, ich habe kurz aufgeschrien. Drei Monate hast Du gekämpft mit Deiner Krebserkrankung, bis zur Erschöpfung und doch voller Hoffnung, dass Du es schaffen könntest und wieder gesundwirst. Deine Krankengeschichte ist eine kurze, heftige.

Am 11. Juli 2019 bist Du gestorben.

Dieses Glück, Dich gekannt zu haben und mit Dir befreundet gewesen zu sein, wird die Schatten überlagern. Und dann, da bin ich mir sicher, wird die Sonne wieder besonders golden strahlen. Vor allem an Deinem Lieblingsort. In Love. Forever!

Gedenkseite für Beate

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Der silberne Moment

Wir optimieren uns permanent. Und merken gar nicht, wie kaputt uns das macht. Denn während wir an der Scheibe des Lebens drehen, damit immer alles rund läuft, rennt uns das Glück unbemerkt davon. Was also können wir im Neuen Jahr besser machen?
Ein Stück Papier mit den Worten: Viel Glück im neune Jahr 2020!"

Mehr Bewegung, mehr Umweltbewusstsein, mehr Geld – all diese guten Vorsätze für das Neue Jahr haben jetzt Hochkonjunktur. Sie müssen jetzt, hier und heute von uns umgesetzt werden. Denn während wir das Jahr über an uns herumdoktorn, merken wir zum Ende hin: Oh, jetzt gehts los! Die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr, das ist eine besondere! Die Zeitschriften- und Buchläden sind vollgestopft mit Jahreshoroskopen und Ratgebern, die uns aufmunternd zuzwinkern als würden sie sagen wollen: Kauf mich, ich weiß es besser als Du! Wie Du schön, schlank, befreit und bewusst wirst im Neuen Jahr.“ Und der Jahresanfang jetzt, er hält uns kläglich den Spiegel vor: Hattest Du nicht gesagt, Du wolltest keine Süßigkeiten mehr essen am Arbeitsplatz? Dein Fleischkonsum, na, immer noch nicht reduziert? Wolltest Du Dich nicht ehrenamtlich im Verein für geflüchtete Kinder engagieren?

Das Unperfekte

Nun ist das Neue Jahr schon wieder zwei Wochen alt. Ich stelle fest, dass es sich ziemlich gut anfühlt, dieses erste Zwanziger-Jahr. Ich habe immer noch nicht 100 Prozent auf Plastikverzicht umgestellt und meinen Banenenbaum habe ich auch noch nicht umgetopft. Meine Vorsätze sind nicht golden, sondern irgendwie wie ungeputztes Silber. Das Unperfekte ist gut, genau so wie es ist. Ich bin entspannt. Ich mag Silber. Gold war mir immer schon suspekt. Das Immer-Mehr-haben-Wollen weicht einem zufriedenem Ich-bin-hier. Bei dem Begriff Working-Life-Balance rümpfe ich heute die Nase. Früher hatten wir Hobbies und Freizeit, jetzt geht es um die Balance und die richtige Dosierung – wie bei einem lebenserhaltendem Medikament. Dabei war uns Menschen ein ausgewogenes Leben doch früher auch schon wichtig. 

Der totale Rückzug

Dass Depressionen gerade in hoch industrialisierten Ländern zunehmen, ist kein Geheimnis. Es wird viel darüber geschrieben und ein paar mutige Autor*innen outen sich sogar, darunter wenige Prominente. Wir denken, wir gehen offen mit dem Thema Depressionen um. Aber den Konflikt anzugehen des Mehr-Wollens versus des gleichzeitig Nicht-Könnens – eine der Ursachen für dieses Krankheitsbild – da wagen wir uns nicht ran. Allein in meinem Freundeskreis gibt es vier Menschen, die in den vergangenen Jahren heftige Erschöpfungszustände erlitten haben hin zu völliger Arbeitsunfähigkeit. Diese Menschen mussten, wie man so schön sagt, aussteigen. Nur der totale Rückzug aus dem vorher gelebten Leben half ihnen dabei, den Weg irgendwann wieder zurückgehen zu können in eine Normalität. Übersteigerte Erwartungen an sie selbst und durch ihr Umfeld hatten sie krankgemacht.

Eine Blaumeise beobachten

Sich selbst nahe zu sein, seine eigenen Bedürfnisse zu erkennen und sie im Einklang mit der Umwelt zu leben, kann eine gesunde Form sein, durch das Leben zu gehen. Dazu gehört auch manchmal, still zu werden und den Moment wahrzunehmen. Wie durch eine Lupe: Tage alleine zu verbringen. Spazieren zu gehen. Den Himmel anzugucken. An einer Rose zu schnuppern. Eine Blaumeise über Minuten zu beobachten, wie sie angeflogen kommt, ein paar Körner aufpickt vom Boden, sich aufplustert und anschließend als kleines Federbällchen auf zwei dünnen Beinen in der Kälte schüttelt, bevor sie dann wieder davonfliegt.

Versilbern ist besser als Gold

Es sind nicht immer die guten Vorsätze, die ein Neues Jahr vergolden. Es sind die Momente und die damit verbundenen Gefühle, die es auf immer und ewig versilbern. Ich kann mir ja trotzdem vornehmen, künftig nichts mehr aus Plastik zu kaufen. Und Texte zum Neuen Jahr früher zu schreiben als es dieses Mal der Fall war.

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Eine Frage der Menschlichkeit 

In den deutschen Kinos läuft derzeit „Die Unsichtbaren – Wir wollen leben“, ein Film über vier Berliner Juden, die während der Nazizeit im Versteck überleben konnten. Jetzt — 75 Jahre später — hat die Bundesregierung entschieden, die Stelle einer/eines Antisemitismus-Beauftragten zu schaffen. Haben wir Deutschen nichts gelernt seitdem?

„Mich hat sehr berührt, dass dieser junge Mann im Film am Ende sagt, wenn man ein einziges Menschenleben rettet, dann rettet man die ganze Welt.“ Ein Publikumsbeitrag im Abaton-Kino in Hamburg am Sonntagmorgen. 200 Menschen sind gekommen, um sich den auf Zeitzeugen  basierenden Film „Die Unsichtbaren“ anzuschauen und nach der Vorführung darüber zu diskutieren. Der junge Mann im Film ist Cioma Schönhaus, einer der Protagonisten aus Berlin, der die Nazizeit — immer auf der Flucht und in dauernder Gefahr, erkannt und verraten zu werden, überleben konnte. Der Reichspropaganda-Minister Joseph Goebbels hatte 1943 Berlin als „judenfrei“ proklamiert. Tatsächlich hatten sich bis dahin etwa 7000 Juden dem Deportationsbefehl in den Osten widersetzt und lebten fortan im Untergrund in der Hauptstadt. „Die Unsichtbaren“ existierten nun offiziell nicht mehr. Sie schlüpften unter bei Freunden und Fremden, wochen- oder tageweise, illegal, ohne Geld und Papiere. Dieser Lebensgefahr setzen sich auch ihre Helfer aus. Menschen, die aus allen Schichten kamen, manchmal keine politischen Absichten verfolgten, aber tief in sich spürten, dass der tödliche Auslöschungsstrategie der Nationalsozialisten etwas entgegengesetzt werden musste.

Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten

Schönhaus zitiert in der Schlussszene seine Retterin Helene Jacobs. Sie ermöglichte ihm, bis zum Schluss in einer Werkstatt als Passfälscher zu arbeiten. Am Ende warnte sie ihn noch vor einer drohenden Verhaftung — und wurde selbst abgeholt. Helene Jacobs gehörte der Bekennenden Kirche an und wurde zu 2,5, Jahren Zuchthaus verurteilt. Sie habe ihm und anderen Juden mit falschen Papieren, Lebensmitteln und Quartier geholfen, um „etwas für ihr Vaterland“ zu tun, habe sie ihm einmal gesagt. Das hat ihn, den damals jungen Grafiker, der sich auf dem Fahrrad am Kriegsende durch das zerbombte Deutschland in die Schweiz durchschlug, sehr beeindruckt. Schönhaus konnte sich ein neues Leben in der Schweiz aufbauen, er gründete eine Familie und starb 2015. Vor der Kamera sieht man einen Menschen, der mit sich und seiner Umwelt im Reinen ist. Vermutlich auch, weil er in dem Wahnsinn der Nazizeit, den er durchlitt, auf die Frage nach Menschlichkeit eine positive Antwort erleben konnte.

Der eigene Rassimus

Die Menschen in dem Kinosaal haben einen Altersdurchschnitt von 55+. Junge Menschen unter 20 Jahren sind nicht gekommen. Die moderierte Diskussion, die die Hamburger Balint-Gesellschaft übernommen hat, ist emotional. Alle Teilnehmer drücken ihre Gefühle aus, packen in Worte, was sie beschäftigt. Aber ein wichtiger Aspekt fehlt: Was ist heute los in Deutschland? Wie steht es um unseren eigenen Rassismus und Antisemitismus? Sind wir, die Zuschauer, auf der sicheren Seite, weil wir gebildete Menschen sind, die im Warmen sitzen?

Viele Fragezeichen

Zur Erinnerung: Eine rechte Partei sitzt im Bundestag und hat eine signifikante Wählerschaft in den neuen Bundesländern vorzuweisen. Die NSU konnte jahrelang agieren und morden ohne dass Staat und Gesellschaft es gemerkt haben (oder merken wollten). In Dessau wird ein Prozess nach langer Zeit wieder aufgerollt mit vielen Fragezeichen an die deutsche Justiz, bei dem ein Asylbewerber aus Sierra Leone mutmaßlich in seiner Zelle verbrannt wurde. Die Bundesregierung hat gerade das Amt einer/eines Antisemitismus-Beauftragten bestätigt.

Antisemitismus Mitten drin

Der Antisemitismus-Bericht, der seit 2013 jährlich erscheint, gibt auf rund 300 Seiten Auskunft darüber, welche Formen des Antisemitismus es gibt, wie dieser ausgeprägt ist und welche Handlungsmöglichkeiten sich daraus ergeben. Ein Punkt darin ist, dass Einrichtungen, die aufklären und fördern, unbedingt finanziell sichergestellt werden sollten. Ein paar Kapitel sind auch dem „Israel bezogenen Antisemitismus“ geschuldet. In diese Kategorie, die naturgemäß parallel zum Nahostkonflikt und Israels Anspruch auf die Westbank, Gaza und Jerusalem entstand, fällt vermutlich das Verbrennen israelischer Flaggen auf Demonstrationen in Deutschland. Auch geht der Bericht auf Judenfeindlichkeit unter Migranten und Muslimen ein. Dennoch stellt er am Ende  heraus: Antisemitismus ist ein primär rechtes Problem. Es muss in der Mitte der Gesellschaft bekämpft werden. Das Problem existiert in unseren Emotionen, eine Messung eben dieser ist eine schwierige Angelegenheit. Wir können uns ergo nicht zu den Wissenden stilisieren, die sich besser anders verhalten und die wir so gerne wären.

Aktiv werden

Zivilcourage kann man üben: In Trainings und Diversity-Workshops. Aber vor allem in Alltagssituationen, in ganz normalen Gesprächen. Wie reagiere ich, wenn ich mitbekomme, dass auf dem U-Bahn-Steig ein schwarzer Mann von Polizisten nach seinen Papieren gefragt wird? Nehme ich als Nicht-Betroffene das „Racial Profiling“ überhaupt wahr? Ich kann eingreifen. Ich kann es auch sein lassen. Habe ich Kontakt mit jüdischen Schüler:Innen, Nachbar:Innen, Bekannten, der Gemeinde in meinem Ort? Sogar die Volkshochschulen bieten Kurse zu Judentum und jüdischer Literatur an. Ich kann aktiv werden. Ich es auch sein lassen.

Erlebnis in Berlin

Ich erinnere mich, wie ich vor vielen Jahren einmal in einer Berliner-S-Bahn Richtung Steglitz die Zeitung „Jüdische Allgemeine“ las. Mir gegenüber saß ein Ehepaar, das sehr gut gekleidet war, beide etwa Ende 50. Die Frau guckte auf den Zeitungstitel, beobachtete mich eindringlich und guckte dann wieder auf den Titel. Schließlich trafen sich unsere Blicke und sie lächelte mich an. Ihr Lächeln bestand aus einem Mund, der zu einer Grimasse verzerrt war. In ihren Augen konnte ich eine Mischung aus Mitleid und Argwohn entdecken.

Dieses Erlebnis wäre eigentlich klein und fast unbedeutend gewesen. Hätte es mir damals nicht so deutlich gezeigt, was es bedeutet, ganz plötzlich als „anders“ wahrgenommen zu werden. Mitten in Berlin.

Der Film „Die Unsichtbaren“ erschien am 26.10.2017 in den deutschen Kinos. Er ist mittlerweile auf Blu-Ray, DVD und digital erhältlich. Mit Max Mauff, Alice Dwyer, Ruby O. Fee und Aaron Altaras. Regie: Claus Räfle

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Herzlich willkommen

Seit einiger Zeit tummeln sich auf dem deutschen Medienmarkt innovative, feministische Magazine und Formate. Sie verändern den Medienmarkt zum Positiven. Dass guter Journalismus nicht mehr ohne sie auskommt, hat auch der Spiegel-Fall kurz vor Weihnachten 2019 deutlich gezeigt. 

Wenn man ein paar Jahre im Ausland gelebt hat, hat man das Gefühl, eine Menge verpasst zu haben. Zum Beispiel bezüglich Technik: CDs hört niemand mehr, es wird nur noch über Handy gestreamt, sagt die Media-Markt-Mitarbeiterin zu mir. Ich schaue nachdenklich und werde ein bisschen traurig – die vielen schönen, alten CDs, die ich gerade erst aus meinen Umzugskisten rausgefischt habe, was mache ich jetzt mit ihnen? Als ich noch einmal meinen Blick über die Ladenregale schweifen lasse, sehe ich ganz viele Schallplattenspieler. Vinyl ist doch Vintage und sie nehmen auch Platz weg, aber – die sind doch super! Vielleicht hat die Frau doch nicht recht und auch CDs werden irgendwann wieder en vogue sein… in altmodischen Musikanlagen oder coolen Ghettoblastern, who knows.

Feministische Formate

Etwas, das sich aber tatsächlich in Deutschland grundlegend geändert hat  – und hier wird es kein aufgezäumtes Vintage und kein Zurück in die guten, alten Zeiten mehr geben – ist der feministische Journalismus. Seine Blüten sind noch jung. Aber sie mausern sich schon zu  ausgewachsenen Blumenköpfen in diesem Land. Ja, ihr habt richtig gelesen. Es rappelt in der medialen-feministischen Kiste! Und an dieser Stelle möchte ich ein paar Formate nennen, ohne die wir nicht mehr wollen und können.

Frei und unabhängig

Missy Magazine: Nicht mehr knospig, sondern absolut ausgereift und 10-jährig ist das mittlerweile legendäre Missy Magazine. Das Magazin für Pop, Politik und Feminismus mit Redaktion in Berlin-Mitte ist, glaube ich, das beste, was allen aufgeweckten Männern und Frauen hier je passieren konnte. Die Missy, wie ich sie auch gerne im Kurzjargon nenne, schafft es auf einzigartige Weise, partizipativ, LGBT-gerecht, sozial und journalistisch hochwertige und relevante Reportagen, Kommentare, Bildstrecken, Grafiken und Themen so aufzubereiten, dass jedes Heft immer ein absolutes Geschenk ist. Die Ursprungsredaktion hat sich mittlerweile geändert und erneuert; ein Zeichen, dass die Leute dort sich selbst hinterfragen, reflektieren und stets wach bleiben. Missy hat keine Angst vor Sex, Dreck oder Provokation – das ist ungemein mutig. Dafür zahlt das Blatt den Preis der Unabhängigkeit. Bis heute gibt es niemand Reichen in Deutschland, sprich Mäzen, der die Missy im Hintergrund finanziell so unterstützt, dass sie von ihren Macherinnen profitabel und sorgenfrei umgesetzt werden könnte. Ein Grund mehr, dieses tolle, so freie Magazin mit einem Abonnement zu unterstützen – oder?

Nie dogmatisch

Edition F: Über Edition F stolperte ich das erste Mal auf Facebook. Denn dort wurden immer wieder gute Artikel von dem Onlinemagazin durch die Crowd geteilt. So lernte ich, dass es seit 2014 ein digitales Magazin von „Frauen und ihren Freunden“ gibt. Mit einer Chefredakteurin, die unaufgeregt weißen, alten Politik-Alphas zum Beispiel (und anderen) völlig gewaltfrei erklärt, warum Sexismus niemandem hilft, sondern uns allen schadet. Edition F ist nie dogmatisch oder erhebt den Zeigefinger moralisch. Hier kann ich mich als normale*r Leser*in widerspiegeln, mit meinen Gefühlen, Interessen und meinem Blickwinkel aus Frauensicht, der für Männer genauso wichtig ist. Die große Stärke des Online-Magazins ist, dass hier auch die Community schreibt und somit Wissen teilt. Und dass Theresa Bücker, die Chefin, positiv-führend in der #metoo-Debatte hervorstach. Mit Fakten und ruhiger Argumentation in einer Diskussion, die längst überfällig war und die noch lange nicht durch ist.

Aus aller Welt

Deine Korrespondentin: Dem Netzwerk von Auslandskorrespondentinnen hatte ich vor einem Jahr hier meinen ersten Artikel gewidmet. Das ist absolut verdient, denn Deine Korrespondentin hat etwas Revolutionäres getan: Pauline Tillmann, die Gründerin, hat die erste Plattform für deutschsprachige Journalistinnen aufgesetzt, auf der wir wirklich gute Texte zu guten Themen aus der ganzen Welt finden können. Aus erster Hand recherchiert von Expertinnen u.a. in Afghanistan, Peru, Israel oder Kasachstan, die die Landessprachen beherrschen, das journalistische Handwerk meisterlich verstehen und bewusst als Frauen Geschichten über andere Frauen machen. Außerdem gibt es einen Newsletter mit Infos und Links sowie aktuelle Podcasts. Pauline selbst sagt, dass sie immer noch kämpft. Denn auch Deine Korrespondentin verfügt über keine dicke Brieftasche. Die Plattform finanziert sich rein über Spenden sowie Veröffentlichungen in der Frankfurter Rundschau und auf Edition F. Pauline ist hochversiert und beteiligt sich aktiv an Konferenzen zu journalistischer Zukunft und Gründungen – auch mit Baby Amrai auf dem Podium. Das Team mit derzeit 10 Korrespondentinnen geht transparent und authentisch mit ihrem Media Lab um und lässt uns daran teilhaben. Wenn ihr Deine Korrespondentin unterstützen wollt, weil ihr auf guten Auslandsjournalismus steht, dann könnt ihr das hier tun.

Echter Qualitätsjournalismus

Was ist nun so aufregend an feministischem Journalismus? Nun, er bedeutet eine notwendige Entwicklung für die Online- und Printlandschaft. Denn er wird vor allem zwei spezifische Gruppen beeinflussen: an allererster Stelle uns – die Frauen! Endlich kommen so Role-Models für uns auf den Markt, die wir Kommunikationsfrauen nie hatten. In meiner gesammelten Berufsvita zähle ich bis heute nur eine einzige Frau als Chefin, aber 8 Männer als Chefs. Da ist es großartig zu sehen, dass Frauen Führung ergreifen und eigene Formate im Journalismus definieren, die Männer nie benötigten, weil sie als Privilegierte immer schon von dem System profitiert haben. Und es ist aufregend auch für sie: die männlichen Alphas. Denn an gleichberechtigter, gendersensibler Information und Informationsbeschaffung kommt Qualitätsjournalismus nicht mehr vorbei, wenn er glaubwürdig und professionell gemacht sein will.

Hans und Grete

Der so genannnte Qualitätsjournalismus wurde Jahrzehntelang von ihnen, den Herren am Kopf des Konferenztisches, den Alphas, gestaltet. Noch arbeiten diese in Vollzeit und definieren sich vor allem über ihre Jobs. Unvergessen für alle Journalistenschüler*innen bleibt in diesem Zusammenhang der sogenannte Küchenzuruf von Henry Nannen, dem langjährigen Stern-Chefredakteur. In seinem Beispiel für eine gelungene journalistische Kernbotschaft, die seine – vornehmlich männliche – Redaktion umsetzen sollte, ließ Nannen einen „Hans“ im „Esszim­mer“ den Stern lesen, während „Frau Grete“ in der Küche „sich die Schürze umbin­det, um sich für den Abwasch vorzubereiten“. Nach „beendigter Lektüre“ ruft Hans seiner Grete in die Kü­che zu: „Mensch Grete, die in Bonn spinnen komplett! Die wollen schon wieder die Steu­ern erhö­hen!“

Männliche Federn, weibliche Federn

Ich hätte in meiner Ausbildung zur Redakteurin, die ich von 2005 bis 2007 gemacht habe, gerne ein anderes Beispiel vorgelebt bekommen. Frei von einem festgezurrten Rollenbild, das mich in eine Küche als Vollzeit-Hausfrau zwängte, aber sicher nicht als ambitionierte Nachwuchsjournalistin am Newsdesk sitzen sah. Ich hätte tief getroffen sein können damals von diesem schlechten Beispiel einer männlichen Arbeitswelt, in der ich gar nicht existierte. Aber es war normal: Männer wollten Journalisten werden, wir Frauen wollten es auch. Doch unser Weg war unsicherer. Wir waren zwar physisch da, aber wir saßen nicht in den Machtpositionen. Dort, wo die Entscheidungen getroffen werden. Damit mussten wir leben. Eigentlich brutal.

Unter sich

Viele Jahrzehnte ging das ziemlich gut. Die Alphas klopften sich gegenseitig auf die Schultern und bestätigten sich: „Wow, geht doch, Jungs!“ Frauen assistierten. Geschichten waren männlich gestrickt, sie enthielten vor allem männliche Protagonisten und sie entstanden aus der männlichen Feder heraus.

Es ging gemütlich zu

Mittlerweile liegt der Anteil von Volontärinnen in Redakteursausbildungen bei über 50 Prozent. Der Anteil festangestellter und freier Journalistinnen in Deutschland geht an die 60 Prozent. Der Verein ProQuote Medien, der sich für eine 50-prozentige Machtverteilung für Frauen in Führungspositionen bei Rundfunk, Fernsehen sowie Tages- und Wochenzeitungen einsetzt, hat kürzlich eine erste Studie herausgegeben. Demnach ist Deutschland noch immer Entwicklungsland wenn es um die Gleichstellung von Frauen und Männern im Medienbereich geht. Denn Zahlen und Fakten sprechen für sich: Von 360 Zeitungen in unserem Land, werden nur 3(!) von Frauen geleitet. Und das in einem Fach, das sich als Hüter der Demokratie begreift.

Causa Claas Relotius

Und was war da eigentlich Weihnachten los? Mann, Mann! Derzeit ist es still geworden um Claas Relotius. Kurz vor Heiligabend aber hatte der junge, charismatische und preisgekrönte Reporter das gesamte Spiegel-Imperium zum Beben gebracht, weil er nachweislich Reportagen ausgeschmückt und gefälscht hatte. Interessant bei der Sache war aber nicht das alleine, sondern wie die Spiegel-Redakteure damit umgingen.  Der Journalist Juan Moreno musste Schwerstarbeit leisten, um seine Spiegel-Chefs davon zu überzeugen, dass sein Kollege Relotius Mist gebaut hatte. Moreno hat das selbst beschrieben, sowohl in der Printausgabe des Spiegel als auch in einem Video. Wie konnte es passieren, dass ein junger Mann eine so glänzende Karriere auf Basis von Schein und Betrug machen konnte? Das ist nur möglich, weil ihn ein Netzwerk stützte, das an ihn glaubte und ihn intensiv förderte. Studien zeigen: Männer fördern Männer – alte Männer fördern gerne junge Männer. Sie sehen sie in den zukünftigen Positionen sitzen, in denen sie selbst längst sind.

Ein langer Weg

Es ist Zeit. Time is up für Alphas. Sie ist da für guten, echten, puren Journalismus. Von Frauen. Für Frauen. Und für alle anderen, die wollen und den langen Weg mit uns mitgehen.

Herzlich willkommen!

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Wie nachhaltig ist Hamburg?

Hamburger Ratschlag
Die UN-Agenda 2030 betrifft auch Städte und Gemeinden weltweit. Bei der Versammlung Hamburger Ratschlag treffen sich deshalb zivilgesellschaftliche Akteure zweimal pro Jahr mit Hamburger Politikern, um das Thema Nachhaltigkeit unter die Lupe zu nehmen.

Hamburg – Dass Nachhaltigkeit nicht nur ein weltumspannendes Thema ist, sondern auch direkt vor der Haustür stattfindet, zeigte der sogenannte „Hamburger Ratschlag“ am vergangenen Freitag. Im Bürgersaal Wandsbek trafen sich Vertreter von 16 Nichtregierungsorganisationen zu der mittlerweile 4. Podiumsplattform und erarbeiteten konkrete Vorschläge für ein nachhaltiges und gerechtes Hamburg. Die Schwerpunkte der Arbeitsgruppen lagen dieses Mal auf Umwelt, Stadtentwicklung und Mobilität. Die Vorschläge werden anschließend dem Hamburger Senat in Form eines Berichts mit Forderungen überreicht.

Agenda 2030

Der Hamburger Ratschlag findet zweimal im Jahr statt und basiert auf der Umsetzung der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. Diese wurden 2015 von allen unterzeichnenden Mitgliedsstaaten verabschiedet und schließen Entwicklungs- und Schwellen- wie auch Industrieländer gleichermaßen mit ein. Der unter dem Begriff  „Agenda 2030“ bekannte Fahrplan konzentriert sich dabei auf fünf Leitprinzipien: Mensch, Planet, Wohlstand, Frieden und Partnerschaft. Alle fünf hängen unwiderruflich miteinander zusammen und orientieren sich stets an der Frage: Wie wollen wir leben? Dabei ist jeder einzelne Mensch gefragt, sich in seiner Stadt, Gemeinde oder Kommune zu engagieren.

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Ökologische Landwirtschaft

Bei der Ausarbeitung für die SDGs – die Sustainable Developement Goals – waren weltweit Akteure der Zivilgesellschaft maßgeblich beteiligt. „Was viele nicht wissen, ist, dass die SDGs eben nicht nur die Entwicklungspolitik betreffen, sondern jedes einzelne Politikfeld selbst“, stellte Jens Martens, Leiter des Global Policy Forums Europe e.V., auf dem Hamburger Ratschlag, heraus. In seiner Einführung ging es vor allem um die Frage, inwieweit sich Kommunen, Städte und Gemeinden für die Umsetzung der Agenda starkmachen könnten. Dabei zeigte Martens Beispiele von Saarbrücken und Thüringen auf, die die Nachhaltigskeitsziele bereits als Querschnitts-Themen in jedem Politikbereich verankert haben. In den Arbeitsgruppen diskutierten die Teilnehmer:Innen deshalb konkret, was sich in Hamburg ändern soll. Unter anderem einigten sie sich auf die verstärkte Ausrichtung ökologischer Landwirtschaft durch eine 50%-Quote aller Neuverpachtungen in der Stadt ab 2020. Ökologische Landwirtschaft sei auf dem Vormarsch, aber „könne nicht von heute auf morgen umgesetzt werden“, merkte dabei ein Teilnehmer an. Doch hier müsste die Stadt mit ihren Vergaberichtlinien zu Grünflächen und Liegenschaften an den gesetzlichen Schrauben drehen. Auch Themen wie Wohnqualität, soziale Gerechtigkeit und Konsumverhalten wurden angestoßen. Insgesamt sei die Agenda 2030 aber noch sehr unbekannt und müsse stärker in das Bewusstsein von Politiker:Innen und normalen Bürger:Innen rücken, so der Tenor.

Ab jetzt Monitoring

Die Freie und Hansestadt Hamburg versteckt die Nachhaltigkeitsziele bisher hinter einem spröden Titel: Die Drucksache 21/9700 ist im Internet abrufbar, aber unter Hamburgern kaum bekannt. Dass auch die Hamburger Presse daran nicht viel ändere, stellten viele engagierte Vertreter der anwesenden Vereine am Freitag unisono fest. Um den Senat stärker in die Verantwortung zu nehmen, hat der Hamburger Ratschlag deshalb auch vor, Fortschritte oder Stillstand zu beobachten: „Wir müssen monitoren, was mit der Umsetzung weiter geschieht“, sagte Professorin Christa Randzio-Plath, Juristin und Vorsitzende des Marie-Schlei-Vereins, der neben dem Zukunftsrat Hamburg, dem Landesfrauenrat Hamburg und W3 – Werkstatt für Internationale Kultur und Politik zu der Plattform eingeladen hatte.

Nächster Ratschlag steht fest

Der nächste Hamburger Ratschlag findet voraussichtlich am 23. November 2018 statt, dann zu den Themen Wirtschaft und Menschenrechte. Teilnehmen können Vertreter:Innen von Nichtregierungsorganisationen sowie alle Interessierten.

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Mitten ins Gesicht

Der Tweet des AFD-Politikers Jens Maier zeigt, dass Rassismus in Deutschland immer noch tief verankert ist. Doch statt mit dem Finger nur auf die AfD zu zeigen, sollten nicht-von-Rassismus-betroffene Deutsche jetzt selbst aktiv werden. 

Eigentlich sollten wir fast dankbar sein. Dankbar für die Ohrfeige, die der rassistische AFD-Politiker Jens Maier  – unbekümmert, dumm – uns weißen Mainstream-Menschen gerade mitten ins Gesicht verpasst hat. Denn vielleicht wachen wir ja jetzt nach dem Knall auf und nehmen unsere Verantwortung ernst.

Rassistischer Tweet

„Dem kleinen Halbneger scheint einfach zu wenig Beachtung geschenkt worden zu sein, anders lässt sich sein Verhalten nicht erklären.“ Dieser rassistische Tweet von Maier erschien letzte Woche in seinem Twitter-Stream und enthält seine Reaktion auf eine Bemerkung Noah Beckers, dem Sohn von Tennisspieler Boris Becker. Dieser hat Maier jetzt angezeigt.

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Screenshot auf twitter.com

Wir haben das Jahr 2018. Es war genau 2001 als die dritte UN-Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban/Südafrika die Sklaverei zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärte und den europäischen Sklavenhandel und Kolonialismus als historische Basis für Rassismus anerkannte.  2007 schließlich erklärte die UNO-Vollversammlung den 25. März zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer der Sklaverei und des transatlantischen Sklavenhandels“. Die Linie zwischen europäischem Kolonialismus und Rassismus, der bis heute in jeder unserer Gesellschaftsschichten zu finden ist, ist gezogen. Wir haben – zumindest äußerlich – verstanden, dass es da einen Zusammenhang gibt. Deutschland war – wie auch Portugal, Frankreich, England und Spanien – eine Kolonialmacht und hat Afrikaner missbraucht, versklavt und getötet.

„Weißes Berlin“

Aber die Macht der Worte entgleitet uns schnell  – sie wird von den meisten weißen Menschen schlicht nicht als solche wahrgenommen.  Noah Becker hatte in einem Interview gesagt, dass Berlin im Vergleich zu London oder Paris eine „weiße Stadt“ sei und er selbst wegen seiner braunen Hautfarbe dort attackiert werde. Noah Becker ist Musiker und DJ. Er lebt gerne in Berlin, sagt er. Aber als Sohn einer schwarzen Frau und eines weißen Vaters ist er von Rassismus betroffen: Er und seine Freunde würden immer wieder beschimpft werden, fremde Leute machten sich über seine Haare lustig.

Wohl unwahrscheinlich

Maier redete sich nach der Veröffentlichung seines Tweets damit heraus, dass „ein Mitarbeiter“ diesen freigesetzt habe. Eine PR-Panne also, die darauf beruht, dass die AFD noch nicht so fit in Social-Media-Strategien ist? Wohl eher unwahrscheinlich. Denn Maiers Tweet passt vorzüglich in das Parteibild der AFD. In seinem Twitter-Stream wird der Dresdner nicht müde, den Islam zu verteufeln und die christlichen Werte des Abendlandes zu betonen.

Das N*Wort betraf uns nicht

Maiers „Entgleisung“ ist keine im eigentlichen Sinne, zeigt sie doch sein wahres Gesicht. Und seine offensichtliche Wut darüber, dass Berlin vielleicht nicht ganz so offen sein könnte wie andere Hauptstädte. Wie aber will der Jurist – ein weißer deutscher Mann mittleren Alters – das beurteilen? Die AfD ist eine Menschen verachtende Partei, die ausgrenzt, indem sie klassisch das Eigene und das Fremde als unüberbrückbare Gegensätze gegenüberstellt. Aber Rassismus gibt es überall, wir alle sitzen mit im Boot. Wir, die wir mehrheitlich nicht von Rassismus betroffen sind. Weißen Menschen machte es nie etwas aus, dass N*-Wort zu benutzen oder es zu hören – natürlich nicht, es betraf sie einfach nicht. Erst als schwarze Menschen die rassistischen Begriffe in Frage stellten und ihre Diskriminierung verdeutlichten, bewegte sich etwas.

Bitter nötig

Doch Deutschland ist langsam und die Kolonialgeschichte ein Kapitel, das gerne damit abgetan wird, dass die Kolonialpolitik nicht sehr erfolgreich und nur gering vonstatten gegangen sei. Wenn wir uns aber – und hier spreche ich ganz explizit uns weiße deutsche Menschen an – tatsächlich von der AFD unterscheiden wollen, dann müssen wir massiv an uns arbeiten. Worte benutzen wie N*? Geht nicht. Schwarzafrika? Geht nicht. Wir sollten einschreiten, wenn wir Rassismus erleben, der sich so oft in einem einzigen Wort zeigt und der immer und überall da ist. Wir müssen unsere eigenen Bilder in unserem Kopf hinterfragen. Wir müssen mehr lesen zu dem Thema, mehr debattieren. Aber vor allem sollten wir uns mit Menschen anderer Hautfarben in Deutschland darüber unterhalten, wie es ihnen geht. Darüber, wie sie unser Verhalten sehen und beurteilen. Wir müssen ihnen zuhören und wir können von ihnen lernen. Denn das haben wir bitter nötig.

Die Autorinnen Susan Arndt und Nadja Ofuatey-Alazard (Hrsg.) haben ein Lexikon veröffentlicht, das vornehmlich von people of color geschrieben wurde und weiße Menschen darin unterstützt, sensibler mit ihrer eigenen Sprache umzugehen: „Wie Rassismus aus Wörtern spricht – (K)erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagwerk“, Unrast-Verlag (2011)

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